Erinnerungen an Intimitäten

Ethno-Drama: »Stille Seelen« von Alexei Fedorchenko

Mirons Frau Tanja ist jung verstorben. Nun gilt es, ihre sterblichen Überreste gemäß den Bräuchen des Volks der Merja zu bestatten. Dafür bittet Miron Aist um Hilfe. Die beiden Männer machen sich auf zu einer Fahrt die Oka entlang, einem Nebenfluss der Wolga, an dessen Ufern Miron und Tanja die schönsten Stunden ihrer Flitterwochen verbrachten. Für die Merja gehören Ehe und Tod offenbar eng zusammen. Die Beerdigungsriten sind voller Anklänge an die Hochzeitsbräuche, so werden etwa bunte Bändchen zu beiden Gelegenheiten der Frau in die Schamhaare geflochten. Eine andere Sitte, das erzählende Erinnern von Intimitäten, gehört ebenfalls dazu. Dies lässt frühe Bilder auch in Aist aufsteigen, der in Tanja verliebt war. So hängen Miron und Aist ihrer Vergangenheit nach.

 

Die Merja sind eine finno-ugrische Volksgruppe nicht mehr exakt nachvollziehbarer Herkunft, die sich in der Gegend um Moskau niedergelassen hat. Sonderlich viele von ihnen gibt es nicht mehr, sie lösten sich schon vor langer Zeit auf in der russischen Mehrheit; nur einige wenige folgen heute noch ihren Traditionen. Ergreifend an »Stille Seelen« ist die Nebensächlichkeit, mit der dies gezeigt wird: Miron und Aist halten an ihren Bräuchen fest, wie sie zur Arbeit gehen oder an einer Tankstelle schnell einen Happen essen — ohne viel Aufhebens darum zu machen.

 

Hinter dem grob gehauenen Äußeren dieser Menschen, ihrer manchmal lauten Art verbirgt sich eine Zartheit und Verletzlichkeit, die man in ihnen nicht vermuten würde. So zumindest sieht das Denis Osokin, auf dessen 2008 erschienenen Novelle Aleksej Fedorchenkos filmisches Kleinod basiert. Fedorchenko geht regelrecht auf in dieser Mischung aus Einfachheit und kontrollierten Seelenstürmen: Sein Film hat einen mächtigen Zug, wirkt wie aus einer Geste heraus erzählt, frei von allem Zaudern und unendlich klar in seinen lichtblau-weißen Bildern. Da gibt es keine Unentschiedenheit.

 

Zudem weiß Fedorchenko, wie man Erinnerungen an Glück und Leid nüchtern zeigen kann: so, wie man ein Stück Straße zeigt oder eine verlassene Hütte am Ortsrand eines Kaffs, das man durchfährt. Erst ganz am Ende begreift man, woher diese Klarheit kommt, und warum der Erzähler sie so sehen und beschreiben kann. Überraschend ist das nicht, dennoch tut es weh und ist gleichzeitig erhaben — und lässt einen den Film buchstäblich noch einmal in einem anderen Licht sehen.


Stille Seelen (Ovsyanki) RUS 2010,

R: Alexei Fedorchenko, D: Igor Sergeyev, Yuriy Tsurilo, Yuliya Aug,
77 Min. Start: 15.11.