Foto: Manfred Wegener

Köln unter Null

Unser modernes Leben scheint immer unabhängiger von den Launen der Natur zu sein. Wir glauben an die stets ­passende Outdoor-Kleidung, die Zentralheizung und die Wettervorhersage auf dem Smartphone. Zwar zeigen uns Waldbrände, Wirbelstürme oder ICE-Züge, die auf den Gleisen festfrieren, wie trügerisch der Glaube an unsere Unabhängigkeit ist. Aber die Jahreszeiten haben ihre existenzielle Wucht längst verloren. Gilt das nicht allemal für den vergleichsweise gemäßigten Winter in Köln? Manfred Wegener hat diejenigen fotografiert, für die der Kölner Winter dennoch eine Herausforderung darstellt — als Fahrradkurier, Erziehe­rin im Waldkindergarten oder Wohnungslose.

Unseren Waldkindergarten gibt es bald zwölf Jahre. Wir haben zwei Gruppen mit je rund zwanzig Kindern und drei Erzieherinnen. Wenn der Winter mild ist, macht es gar keinen großen Unterschied. Wir beladen wie immer den Bollerwagen: Werkzeugkiste, Malunterlagen, Scheren zum Basteln, Seile zum Klettern, Hängematten und die große Bücherkiste.

 

So geht’s dann raus zu einem unserer rund zwanzig Waldspielorte hier am Forstbotanischen Garten. Wir nehmen möglichst wenig vorgefertigtes Material mit, denn wir wollen ja die Natur als Erfahrungsfeld nutzen. So kann ein Stock dann eine Geige, ein Ritterschwert oder auch mal ein Staubsauger sein. Klar, wenn es klirrend kalt ist, sind alle Kinder gut eingepackt und tragen Zwiebel-Look. Mit Werkzeug kann man dann nicht so gut arbeiten, wir machen lange Spaziergänge, Kletter- und Bewegungsspiele. Am schönsten ist es im Winter, wenn es schneit. Wir machen Schnee-Engel, erforschen Eiskristalle, fahren mit Skiern oder Schlitten den Hügel herunter. Bei Minusgraden frühstücken wir natürlich auch nicht wie sonst draußen, sondern in unseren beiden Bauwagen. Die sind mit Öfen beheizt, dort spielen wir dann Theater oder lesen uns Geschichten vor und trinken heißen Kakao. Oder wir brutzeln Vogelfutter, hängen es später im Wald auf.

 

Überhaupt beobachten wir oft die Tiere im Wald. Im Winter sieht man zwar weniger, aber die Meisen kommen regelmäßig an unsere kleine Futterstation. Die Kinder im Waldkindergarten sind übrigens nicht oft erkältet, wie vie­le denken. Denn draußen zu sein stärkt das Immunsystem, und an der frischen Luft steckt man sich auch nicht so häufig gegenseitig an wie in geschlossenen Räumen.«

 

Angela Zinkann, Erzieherin Waldkindergarten »Waldzwerge«, Rodenkirchen | Gesprächsprotokoll: Bernd Wilberg

 




Früher war ich Sporttaucher,
seit ich bei der Taucherstaffel bin, tauche ich privat nicht mehr. Denn Rote-­Meer-Romantik mit klarem Wasser und bunten Fischen sucht man hier ­vergebens. Bis auf ein paar Wochen im Sommer ist das Wasser immer kalt, die Sicht ist schlecht, oft ist es nach ein paar Metern schon so ­pechschwarz, dass ich nicht mal den Druck an meinem Tauchgerät ­ablesen kann.

 

Im Winter wird die Arbeit für uns deutlich anspruchsvoller und gefährlicher, wir brauchen höhere Sicherheitsstandards und eine umfangreichere Logistik. Wir tauchen immer alleine, an einer Leine mit Sprechverbindung zum Signalmann draußen. Vor allem bei einem Eistauchgang kann es brenzlig werden, da man ja exakt an der gleichen Stelle — wir schneiden ein Loch ins Eis — wieder auftauchen muss. Wenn irgendetwas Unvorhergesehenes passiert — und die Gefahr ist im Winter größer — können wir nicht einfach irgendwo auftauchen. Die Hauptgefahr ist, dass durch die Kälte unsere Geräte oder Atemmasken vereisen und der Taucher keinen Sauerstoff mehr bekommt. Die psychische Belastung, die beim Tauchen grundsätzlich immens ist, ist unter Eis nochmals größer, schon wegen der schwieriger werdenden Orientierung. Unter Eis zu tauchen hat aber auch eine schöne Stimmung: Es gibt ein besonderes Licht und es ist immer ein Adre­nalin-Kick durch die Herausforderung.

 

»Person im Rhein« ist unser Haupteinsatz, etwa wenn jemand von einer Rheinbrücke springt oder vom Schiff fällt. Das ist schon ein beklemmendes Gefühl, wenn einen ständig unter Wasser irgendwelche Sachen berühren, z. B. ein Ast oder Pflanzen. Dann muss ich jedes Mal durch Tasten herausfinden: Ist es das, was ich suche?

 

Manchmal erleben wir beim Tauchen auch komische Sachen. Im Fühlinger See haben wir mal beim Übungstauchen einen Tresor gefunden, und im Escher See mal eine Beute von einem Raubüberfall aus Chorweiler mit allerlei wertvollen Ringen, Ketten, Armbändern. Wir ­finden eigentlich immer etwas, und wenn es nur ein ­verrostetes Fahrrad ist.«

 

Jörg Seemann, Leiter der Taucherstaffel der Berufsfeuerwehr Köln | Gesprächsprotokoll: Anja Albert

 




Heute bin ich nicht mehr obdachlos, aber ich werde nie vergessen, wie es war. Ich hatte vorher ein normales Leben: Familie, Arbeit, Wohnung. Dann kam eins zum anderen. Mein Mann wurde gewalttätig, meine 14-jährige Tochter war schwanger, ich war Alleinverdiener, und der Stress auf der Arbeit wurde immer schlimmer. Nach einem Zusammenbruch habe ich meinen Job verloren, schließlich kam die Räumungsklage.

 

Der Winter bricht den Willen eines Menschen draußen auf der Straße. Es ist ohnehin schwierig, vor allem aber für Frauen. Man hat Angst, vergewaltigt oder aus­geraubt zu werden. Und man wird als Freiwild betrachtet. Viele Frauen suchen sich einen Beschützer. Doch viele werden dann auf den Strich geschickt oder drogenab­hängig gemacht. Ich bin damals alleine geblieben, hab keinem vertraut. Bei Kälte habe ich zunächst versucht, in Hauseingängen zu übernachten, doch wenn Licht anging, bin ich immer aufgebrochen. Bei der Kälte kann man ohnehin kaum schlafen, und wenn, dann schämt man sich beim Aufwachen, wenn Leute einen sehen. Ich hab mich an der Heizung im Toilettenhäuschen eines Friedhofs aufgewärmt, nachts wurde es abgeschlossen, dann hab ich unter einem winzigen Vordach geschlafen. Einmal verfärbte sich mein Körper schon vor Kälte, heute habe ich einen Lungenschaden.

 

Klar, es gibt Hilfsstationen. Aber die hygienischen Verhältnisse sind oft katastrophal, außerdem weiß man bei Mehrbettzimmern nie, wer noch dazukommt. Viele klauen dort auch, was man noch hat, muss man am Leib tragen. Oft sind zudem Hunde verboten. Würde ich ­wieder obdachlos, hätte ich mit meinem Hund Clyde keine Chance auf einen Schlafplatz. Aber eine Trennung käme für mich niemals in Frage. Es ist wichtig, dass es heute auch Stationen nur für Frauen gibt, aber selbst dort gibt es Gewalt. Deshalb wollte ich damals lieber draußen und allein sein. Mir hat schließlich das Café Auszeit und viel starker Wille geholfen, aus der Situation herauszufinden. Schließlich bin ich in eine WG für obdachlose Frauen gekommen, jetzt habe ich eine eigene Wohnung. Aber einen Schlafsack, ein Zelt und einen Bundeswehr-Rucksack habe ich mir trotzdem besorgt — für alle Fälle.«

 

Linda Rennings, Draussenseiter-Verkäuferin | Gesprächsprotokoll: Bernd Wilberg

 

 


Im Sommer kommen die Leute sehr spät, da sind die gerne mal bis zwei, drei Uhr draußen und sitzen im Park. Im Winter kommen die Leute schon früher, und werden dann auch ungeduldiger, wenn es zu lange dauert. Manche Gäste kommen im Winter manchmal schon um elf Uhr, wenn wir aufmachen, bezahlen schon mal und holen sich einen Stempel, damit sie sich dann später nicht mehr anstellen müssen.

 

Dann gibt es die Frauen, die schon ohne Jacke kommen, mit tiefem Dekollete und kurzem Röckchen. Wir haben das Auto um die Ecke geparkt und die Jacken dort gelassen, sagen sie. Da sagen dann schon mal andere in der Schlange: Lass’ doch die Mädels vor. Das mache ich aber nicht so gerne. Ich finde, wer länger wartet, kommt auch früher rein. Generell versuche ich, so fair wie möglich zu sein. Wenn sich einer vordrängelt und ich das sehe, dann muss der oder die zurück ans Ende der Schlange. Egal, ob es Winter ist und egal, wie leicht bekleidet sie sind.

 

Aber wir schauen schon, dass niemandem zu kalt wird. Manchmal geben wir eine Jacke raus, oder einen Kapuzenpulli. Wir haben ja immer ein paar Sachen in der Garderobe, die nicht abgeholt wurden. Ich kann nur meine eigene nicht abgeben, mir ist ja auch kalt. Denn wir stehen ja am längsten draußen. Wenn der große Teil der Leute drin ist, gehen auch wir rein. Drinnen haben wir eine Heizung, die richtig gut knallt.«

 

Bülent Erkus, Türsteher Gewölbe | Gesprächsprotokoll: Christian Steigels

 

 



Natürlich ist es im Sommer etwas angenehmer. Da ­bringen sich die Leute abends auch mal Decken mit und bleiben sitzen. Aber ich mag auch die besondere Atmosphäre, wenn ich im Winter am Eingang zum Weihnachtsmarkt auf der Domplatte spiele.

 

Für mich als Pianist ist der Winter natürlich vor allem anstrengend und kalt. Ich habe zwar immer Taschen­wärmer dabei, aber manchmal kann man trotzdem kaum schnelle Sachen spielen. Deshalb bastle ich auch gerade an einer Tastenheizung mit Infrarotlampen.

 

Ich war mit dem Flügel schon in ganz Deutschland unterwegs, nächstes Jahr plane ich eine Weltreise. Eigentlich spiele ich in allen Städten gerne, Dresden ist toll zum Beispiel, aber in Köln bin ich irgendwie kleben geblieben. Ich wohne hier, ich mag Köln, obwohl es kaum eine andere Stadt gibt, die es einem so schwer macht, Straßenmusik zu machen. Die Regelung, dass man nur von der vollen bis zur halben Stunde spielen darf, macht es unmöglich bei schlechtem Wetter 20 trockene Minuten abzuwarten.

 

Ein Flügel auf der Straße ist selten. Geträumt hatte ich davon schon immer. Vor sechs Jahren hab ich dann das Podest gebaut, einen Flügel gekauft und mit der ­Straßenmusik angefangen. Ich arbeite auch noch als Komponist, Studiomusiker und gebe Konzerte bei verschiedenen Kölner Unternehmen. Aber mit der Straßenmusik kann ich meine künstlerische Freiheit bewahren, bin flexibel und muss kein Programm einhalten.«

 

Daniel Kiefert, Straßenmusiker | Gesprächsprotokoll: Birte Hauke

 

 


Ich bin Roma und in der ­serbischen Stadt ?a?ak ge­boren und erinnere mich noch sehr gut an die Winter in ­Serbien. Wenn es kalt wird, ist das Leben dort, das sowieso sehr hart für Roma ist, kaum noch auszu­halten. Die meisten Roma haben keine Arbeit, leben in Ghettos am Rand von Müllkippen, die Kinder gehen nicht in die Schule, kranke Menschen müssen sich ihre Medi­kamente selbst kaufen.

 

Das bisschen Geld, das die Leute haben, wird im ­Winter noch knapper. Normalerweise verdienen sie ihr Geld, indem sie auf Schrottplätzen und Müllkippen nach Schrott suchen, den sie dann verkaufen. Im Winter wird das aber schwieriger, weil oft Schnee oder Eis alles bedeckt, und es draußen bitterkalt ist, manchmal bis zu 30 Grad Minus. Die Leute haben in ihren Ein-Zimmer-Hütten keine Heizung, nur einen kleinen Herd, wo sie auch Essen kochen. Dann machen sie aus Pappe ein Feuer, für vielleicht eine Stunde am Tag. Ich habe aber auch oft erlebt, dass die Menschen trotzdem abends ­singen und tanzen und auch fröhlich sind.
Auch an meinen ersten Winter in Deutschland kann ich mich gut erinnern. Als ich vor acht Jahren in der Adventszeit in Köln ankam, kam es mir vor wie ein Traum. Ich bekam eine Wohnung mit Heizung und warme Kleidung. Und ich bin durch die Innenstadt gebummelt und habe mir die geschmückten Schaufenster angeschaut, das war schön, auch wenn ich nichts ­kaufen konnte.

 

Seit vier Jahren arbeite ich in der Küche des Rom e.V. und koche für die Kinder der Kita und der Grundschule. Das macht mir viel Spaß, gerade vor Weihnachten ist immer eine besondere Stimmung. Die Kinder sind aufgeregt, voller Vorfreude, und vor den Weihnachtsferien bekommen sie auch ein kleines Geschenk von uns — manchmal das erste ihres Lebens.«

 

Vesna Radosavljevic, Köchin beim Rom e. V. | Gesprächsprotokoll: Anja Albert

 

 



Natürlich ist das Philharmonie-Programm im Winter ganz anders
: Viele saisonale Konzerte wie das Weihnachtsoratorium, an Heiligabend der Domchor, das Silvester- und Neujahrskonzert?... Fast immer müssen im Winter alle acht Garderoben besetzt sein. Bei den vielen ausverkauften Konzerten sind das dann bis zu 25 Mitarbeiter am Abend. Für die Kollegen, die am Eingang stehen, ist der Winter noch mal etwas anderes: Die stehen am Windfang im Eingangsbereich, und müssen dann auch dicke Mäntel und Handschuhe tragen. Klar, auch die Jacken und Mäntel der Gäste sind im Winter dicker. Die Leute geben Handschuhe, Schals und Regenschirme ab. Und wenn’s geregnet hat, trocknen wir die Schirme auch mit Papiertüchern — damit die Mäntel, die daneben­hängen nicht nass werden.

 

Das ist vielleicht alles mehr Arbeit, aber ich find’s cool, die ganzen Sachen anzunehmen bis die Garderobe voll ist. Vor allem deshalb, weil es hinterher nämlich total Spaß macht, alles auf einmal wieder herauszugeben. Das heißt dann: Mantel zurückgeben und das nächste Märkchen gleich annehmen. Wir drehen uns umeinander, fast wie eine Kür, man muss aufpassen, sich nicht umzurennen. Die Leute geben ihr Märkchen ja auch nicht immer dort ab, wo ihre Kleidung hängt. Wer zu zweit oder dritt kommt, bekommt am besten ein Märkchen, so dass es nachher schneller geht und alle zeitgleich ihre Sachen wiederbekommen.

 

Die Schalen mit Hustenbonbons stehen übrigens ganzjährig an den Garderoben.  Aber vor allem im Winter sind sie immer schnell leer, manche greifen dann auch ganz beherzt zu.«

 

Alexander Strippel, Garderobe in der Kölner Philharmonie | Gesprächsprotokoll: Bernd Wilberg

 

 


Wenn der Winter so wie vor zwei Jahren ist, mit Eisplatten und allem drum und dran, dann heißt’s für mich:
­Stollenreifen aufziehen, eventuell sogar Spikes, damit ich überhaupt durchkomme. Das machen aber alle Fahrradkuriere anders: Ein Kollege von mir fährt weiter mit Rennradreifen und furcht sich damit eher durch den Schnee. Der sieht dann anschließend aber auch immer aus wie eine Eisprinzessin.

 

Glätte ist das Hauptproblem: Ein anderer Kollege von mir hat sich letztes Jahr das Schienbein gebrochen. Besonders problematisch sind Schienen, oder Gullydeckel. Die werden sehr schnell kalt und dann auch glatt. Aber es hilft ja nichts — gerade rund um Weihnachten und kurz vor dem Jahresende brummt bei uns das Geschäft. Da werden Steuerunterlagen verschickt, die noch im alten Jahr raus müssen. Und auch jede Menge Geschenke: Präsentkörbe, Weinflaschen, so etwas. Manchmal kann man auch ein Kuscheltier hinter der Verpackung erahnen.

 

Ein überraschender Nebeneffekt am Winter ist das veränderte Verhalten der Autofahrer. Vor zwei Jahren waren die Autofahrer jedenfalls wesentlich umsichtiger. Wir Kuriere sind ja meist auf den Straßen unterwegs. ­Normalerweise wird man immer angehupt, weil die ­Autofahrer die Straße als ihr Territorium ansehen. Im Winter wird man eher toleriert, denn man kann oft auch nirgendwo anders mehr fahren. Da bekommtt man dann auch immer wieder mitleidige Blicke ab.

 

Wenn ich einen Weihnachtswunsch bei der Stadt frei hätte, dann wäre das der Ausbau der Nordseite der Hohenzollernbrücke für den Radverkehr. Man bräuchte nur linksrheinisch eine Rampe zum Hochfahren. Auf der Südseite ist es schlicht zu eng für Fußgänger und Radfahrer. Das würde klar entstressen. Und wäre besser für die Touristen, die sich die Liebesschlösser angucken.«

 

 Martha Frielinghaus, Fahrradkurier | Gesprächsprotokoll: Christian Steigels