Eine Utopie am Rand der Zerstörung

Magischer Realismus: Benh Zeitlin über seinen Debütfilm Beasts Of The Southern Wild, die Arbeit mit Laiendarstellern und seine Faszination für das Bayou im Süden Louisianas

»Beasts of the Southern Wild« ist ihr Debütfilm, entwickelt vom Filmkollektiv Court 13, mit einer sechsjährigen Hauptdarstellerin ohne Schauspielerfahrung, gedreht in einem Sumpfgebiet. Wie überzeugt man Produzenten von so einem Vorhaben? Ein paar sind alte Freunde von mir und wissen, dass ich verrückt bin — das half. Die Finanziers sind sehr mutige Leute. Sie mochten meinen Kurzfilm »Glory At Sea«, der viele ähnliche Elemente hat. Vor allem arbeiten sie nicht gewinnorientiert, sondern verfolgen eine rein kreative Agenda. Das ist besonders für eine US-amerikanische Produktionsfirma ungewöhnlich.

 

Was haben ihre Laiendarsteller — insbesondere Hauptdarstellerin Quvenzhané Wallis — zur Figurenentwicklung beigetragen? Es war Kern unseres Arbeitsprozesses, jede Figur zusammen mit dem jeweiligen Darsteller zu erschaffen. Wir führten über Wochen Gespräche, um ihr Leben kennenzulernen. Einerseits um eine Figur zu entwickeln, deren Handlungen für den Laiendarsteller spielbar und nachvollziehbar werden. Zugleich führten diese Gespräche zu konkreten Szenen und veränderten die Handlung im Film: Quvenzhanés Art zu sprechen, aber vor allem ihre Kinderlogik haben die Figur Hushpuppys entscheidend geprägt. Das gilt auch für die anderen Darsteller. Dwight Henry, der ihren Vater Wink spielt, hat Hurricane Katrina in kinnhohem Wasser überlebt, eine Erfahrung, die meine Vorstellungen seiner Figur teilweise über den Haufen geworfen hat.

 

Was macht das Bayou Louisianas zu diesem ebenso magischen wie bedrohlichen Schauplatz? Das Bayou unterscheidet sich durch seine französischen und indianischen Wurzeln, seine Kultur und Sprache extrem vom Rest Amerikas. Das Bayou kommt ursprüng­licher Natur sehr nahe. Man macht dort eine intuitive Erfahrung der Nahrungskette. Jedes Tier und jede Pflanze kämpft im Bayou ums Überleben und blüht zur gleichen Zeit auf. Man fühlt sich wie in einer Art Dschungel. Unter den Bäumen gilt ein Regelsystem, das mit unserem zivilisatorischen Weltverständnis nicht vereinbar ist. Selbst die Einheimischen halten den Ort für magisch. Aber besonders für mich als Außenstehenden hat er etwas Mystisches. Es fällt leicht, im Bayou einen Ort für Märchen und Legenden zu sehen.

 

Der von seinen Einwohnern Bath­tub genannte Handlungsort ist eine Art heruntergekommener Garten Eden mit einer anarchischen, autarken und solidarischen Gemeinschaft. Was bewahrt ihren Film davor, zum Feel-Good-Movie für ein zivilisationsmüdes Arthaus-Publikum zu werden? Hushpuppys Vater Wink, der Bathtub und seine Gemeinschaft tragen utopische und zugleich de­struk­tive Züge: Wink lehrt Hushpuppy Freiheit und Selbstständigkeit, aber er setzt dabei seine Tochter ständig Gefahren aus und erfährt auch keine wunderbare Wandlung. Er wird nicht zum netten Papi, sondern bleibt ein bedrohlicher, fehlerbehafteter Mensch. Die Geschichte verzichtet auf eine Wohlfühlmoral, in der gefährliche Dinge plötzlich harmlos werden. Es geht gerade darum, wie man lernt, Menschen zu akzeptieren, die nicht in konventionelle Moralvorstellungen passen. Auch der Ort behält seine Ambivalenz. Es ist eine Utopie am Rand der Zerstörung.

 

Statt erzählerisch stringent voranzuschreiten, entfaltet der Film Motivschichten. Sie selbst sprechen von einer »emotionalen Struktur«. Es ist ein emotionaler Plot, weil es statt um die Überwindung äußerer Widersacher um die Überwindung innerer Widerstände geht. Am Ende des Films muss Hushpuppy den eigenen Vater beim Sterben begleiten. Eine der schwierigsten emotionalen Herausforderungen, besonders für ein sechsjähriges Mädchen. Wir haben versucht, die Geschichte von diesem Punkt her zurückzubauen: Was braucht sie, um emotional stark genug zu werden?

 

Ihr Film wurde nicht nur in Sundance und Cannes gefeiert und ausgezeichnet, er trifft offenbar auch beim Publikum einen Nerv. Ein Krisenfilm für eine Welt im Krisengefühl? Wir erleben global einen rapiden und radikalen Verlust von kultureller Vielfalt und Heimat. Ganz konkret durch Naturkatastrophen und Tsunamis, die Orte im wörtlichen Sinne auslöschen. Aber auch in subtilerer Form durch kulturelle Globalisierung: Du kommst zurück in deinen Heimatort und deine Schule ist mittlerweile ein Starbucks, dein Elternhaus ein Frozen-Joghurt-Laden. Die Bedeutung von Heimat und die Schwierigkeit sie in unserer modernen Welt zu erhalten, beschäftigt viele Menschen. Das zeigen mir die Publikumsreaktionen bei unseren Vorführungen.

 

Assoziationen an Katrina und seine sozialen Konsequenzen besonders für die afroamerikanische Bevölkerung von New Or­leans drängen sich auf. Inwiefern hat »Beasts Of The Soutehrn Wild« eine politische Ebene?

Der Film zeigt Menschen, die unabhängig vom politischen und wirtschaftlichen System der USA leben. Für mich repräsentiert das in vieler Hinsicht das Selbstverständnis im Süden Louisianas. Hier bezieht man Stolz aus der Gewissheit, selbst einen Zusammenbruch staatlicher Strukturen überleben zu können. Denn Überleben haben die Menschen dort gelernt. Das feiert der Film. Ich weiß nicht, ob das politisch ist oder nicht. Aber es ist sicher eine Art kultureller Schlachtruf.

 

Benh Zeitlin
Zeitlin wurde 1982 in New York geboren. Er studierte Film an der Wesleyan University in Connecticut. 2008 zog er während der Dreharbeiten zu seinem Kurzfilm »Glory At Sea« nach New Or­leans. Sein Langfilmdebüt »Beasts Of The Southern Wild« gewann unter anderem die Goldene Kamera bei den Filmfestspielen in Cannes und den Großen Preis der Jury in Sundance. Sein nächster Film soll erneut in Louisiana spielen und von einem versteckten
Ökosystem handeln, in dem der Alterungsprozess entweder beschleunigt oder verlangsamt abläuft.