Interessant pervers

Politdrama: Der Aufsteiger von Pierre Schoeller

Wovon träumen Bundesminister, bevor sie frühmorgens aus dem Schlaf gerissen werden? Von erotischen Zeremonien, die mit ihrem Palastprunk und vermummten stummen Dienstboten an Kubricks »Eyes Wide Shut« denken lassen? Das Unterbewusstsein des französischen Verkehrsministers Bertrand Saint-Jean produziert jedenfalls zu Beginn von »Der Aufsteiger« so ein Szenario, das darin gipfelt, dass eine nackte Frau in den aufgerissenen Schlund eines Krokodils kriecht. Selbst wenn Regie und Montage keinerlei Bezug zwischen dem surrealen Prolog und dem eigentlichen Plot herstellen, versteht sich von selbst, dass wir den Protagonisten unter dem Vorzeichen seines Traumes betrachten — und laienhaft psychoanalysieren.

 

Nachdem der fiktive Minister (Olivier ­Gour­met) an den Ort einer Verkehrskatastrophe gerufen worden ist, entspinnt sich ein Machtkampf zwischen Kabinettsmitgliedern, der über die Medien ausgetragen wird. Es geht um Pläne zur Privatisierung von Bahnhöfen, wobei nie klar wird, ob deren Ablehnung durch Saint-Jean sachlich begründet ist oder gar ideologisch fundiert. Es ist wohl auch egal, denn letztlich erliegt der Mann erwartungsgemäß der seltsamen Erotik der Macht. Wie die meisten Politdramen handelt auch der zweite Spielfilm des französischen Filmemachers Pierre Schoeller (»Versailles«) davon, dass ein halbwegs unbescholtener Amts­träger sich allmählich vom Politikbetrieb verschlingen lässt.

 

Das kann man, obwohl Schoellers Inszenierung Nähe herstellt und die Hektik des Politalltags betont, mit demselben faszinierten Abstand betrachten wie die an­fängliche Traumsequenz, denn der porträtierte Machtzirkel erscheint zunehmend undurchdringlich. Während der Protagonist die Erzählperspektive dominiert, verdeutlichen zwei kurze Perspektivverschiebungen das Scheitern seiner Bemühungen um zwischenmenschliche Vertrautheit. Sein Privatsekretär, gespielt vom wunderbaren Michel Blanc, lässt sehr diskret durchscheinen, dass seine Loyalität allein den Institutionen gilt. Und wenn der Minister einen neuen Chauffeur erhält, der zu PR-Zwecken unter Langzeitarbeitslosen rekrutiert wird, ruft die plumpe Wortkargheit des (von einem Laien gespielten) Mannes Saint-Jean ins Bewusstsein, dass der Kontakt zum sprichwörtlichen »Mann auf der Straße« abgerissen ist.

 

Diese Hermetik bricht Schoeller drastisch durch zwei Verkehrsunfälle auf, die in jedem Sinne unter die Haut gehen. Seit Cronenbergs »Crash« ist wohl kein anderer Film so fasziniert gewesen von konkreten Unfallfolgen — was neben der besagten Traumsequenz dazu beiträgt, dass »Der Aufsteiger« ein interessant perverses Politdrama geworden ist.

 

Der Aufsteiger (L’exercise de l’État, F/B 2011, R: Pierre Schoeller, D: Olivier Gourmet, Michel Blanc, Zabou Breitman, 115 Min.