Bis zum letzten Augenblick

Unkonventionelle Filmbiografie: Violeta Parra von Andrés Wood

Die Chilenin Violeta Parra ist eine Ikone der süd- und mittelamerikanischen Polit-Volkskunst des letzten Jahrhunderts: Sie brachte den Menschen ihres Landes die eigenen Lieder wieder näher, arbeitete mit Ton, bestickte Sackleinen, malte mit Öl auf Leinwand, dichtete, bereiste Europa und gründete ein Künstlerzentrum in Santiago de Chile. Am 5. Februar 1967 nahm sie sich mit 49 Jahren das Leben.

 

Hier setzt Andrés Woods ganz erstaunlicher Film über das Leben Parras ein: in ihren letzten Augenblicken. Das versteht man aber erst gegen Ende, weil man zunächst allein ein zuckendes Auge sieht, von dem man zwar bald weiß, wem es gehört, doch nicht, woher diese Unruhe kommt. Die Szene mag man als einziges Manko des Films sehen, denn dieser narrative Kunstgriff ist ebenso wenig innovativ, wie die Entscheidung Parras bekanntestes Lied »Gracias a la vida« erst ganz am Ende zu spielen. Aber vielleicht war es ja auch so: Wood dachte, dass es zumindest einen konventionellen Rahmen braucht, wenn schon der Rest seiner Erzählung in Form wie Gehalt genau das nicht ist.

 

Parras Leben bietet Stoff für die Art von Heiligengeschichte, mit der einem die internationale Filmkunstgewerbeindustrie seit den Anfängen des Langfilms mal erfreut, mal malträtiert: das Genie — in diesem Fall sogar eine Autodidaktin in fast allen Disziplinen —, dessen Schaffen die Massen zum Rasen bringt und an deren Liebe bzw. deren Verweigerung es zerbricht, große Auftritte, größere Gefühle, klarer Bogen von Aufstieg und Fall. Nicht so hier. »Violeta Parra« ist ein Gewebe aus Erinnerungs- und Vorstellungsfragmenten, die manchmal überhöht traumgleich wirken und immer radikal subjektiv.

 

Die Geschichte verläuft in Schleifen, wie ein Seil, das für einen Knoten eben auch manchmal nach hinten gebogen und über einander gelegt wird, nur um wieder vorne zu erscheinen. »Violeta Parra« ist nach ihren Liedern und ihrer  Lyrik gestaltet, ohne diese zu illustrieren oder Ähnliches zu tun. Wood folgt deren Beispiel, erzählt in poetischen Zuspitzungen, ohne die Realität der Geschichte außen vor zu lassen. Das passt kongenial zu Parras po­­litischen Idealen, die man am besten als einen pragmatischen So­­zialismus des Teilens und der Gleichheit beschreibt. Große Kunst, all das. Und jene Szene, in der ein alter Mann begreift, dass er seine eigene Trauer überwinden und ein Lied singen muss, damit andere Menschen trauern können, ist ein großer Augenblick dieses Filmjahres.

 

 

Violeta Parra (Violeta se fue a los cielos) CHI/ARG/BRA 2011, R: Andrés Wood, D: Francisca Gavilán, Thomas Durand, Christian Quevedo, 110 Min.