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Simon Reynolds analysiert die Nostalgiesucht in der Pop-Musik

Köln, 1.Dezember 2012. Auf der Bühne der Alten Kranfabrik in Ehrenfeld stehen Indie-Darling Stephen Malkmus und die Kölner Band Von Spar. Vor der Bühne stehen die Can-Mitglieder Irmin Schmidt und Jaki Liebezeit. Auf der Bühne wird ihr vielleicht wichtigstes Album gespielt, »Ege Bamyasi«, das in diesen Tagen sein 40. Jubiläum feiert. Was als Hommage angekündigt wird, entpuppt sich als Coverversion, als Reinszenierung eines Klassikers, bei dem der größte Unterschied allein die Fähigkeiten der Musiker sind.

 

Momente wie diese füllen Simon Reynolds Buch »Retro-mania«. In Kleindruck drängeln sie sich am unteren Seitenrand der ersten Kapitel, ein Laufband aus Reunions, Reissues und Re-enactments: Pavement wieder zusammen, Kraftwerk führen ihr Gesamtwerk auf, in Seattle eröffnet ein Museum zur Rockgeschichte. Pop hat sich in der Retroschleife verfangen, schreibt -Reynolds, keine Gesellschaft in der Geschichte der Menschheit sei so sehr »von den kulturellen Artefakten ihrer jüngsten Vergangenheit besessen« wie unsere.

 

So lautete die Diagnose im letzten Sommer, als die englische Originalausgabe erschien. Seitdem ist Retro endgültig in der Mitte der Abendunterhaltung angekommen. Das Kulturprogramm der Olympischen Spiele reinszenierte des »Cool Britannia« der 90er Jahre, die Produzenten von Mad Men perfektionierten in der letzten Staffel ihren Retro-Chic, indem sie 250.000 Dollar dafür bezahlten, mit »Tomorrow never knows« das wegweisendste Stück der Beatles zu lizensieren. Dann sind da noch Mumford & Sons, deren Rückkehr zu einer christlichen Idylle den Soundtrack zur Weltflucht vor der Unverständlichkeit des Finanzkapitalismus abgibt.

 

Reynolds fragt aber nicht nur nach den Symptomen, sondern auch nach den Ursachen der Retromanie. Durch die Digitalisierung ist die jüngste Popvergangenheit allgemein verfügbar, während Lizensierungen für Compilations, Filme und Reissues für die Musikindustrie zu einer wichtigen Einnahmequelle geworden sind. »So wird Pop enden, nicht mit einem Knall, sondern in einem Box-Set, dessen vierte CD du niemals abspielen wirst«, schreibt Reynolds und legt damit auch seine eigene Position offen. Als Sammler und Musikfan steckt er mittendrin in der Retro-Schleife. Ohne Reue schildert er seine eigenen Nostalgiemomente: Abende, die er mit alten Dancetracks auf YouTube verbringt oder das Pilgern zu Reunion-Konzerten. Reynolds sucht für »Retromania« ebenso akribisch in den Archiven, wie es die von ihm kritisierten Retro-Musikanten tun.

 

Dadurch erscheint sein Buch an vielen Stellen wie ein Kompendium aktueller Retro-Kulturen vom Reenactment der Northern Soul-Szene im Nordosten Englands bis hin zu den japanischen Punks, die obsessiv den Sound von 1977 nachbilden. Und wer sich schon immer gefragt hat, was genau es mit dem Plattenladen auf der Hülle von DJ Shadows Cratedigging-Opus »Endtroducing« auf sich hat, der wird es hier erfahren. »Retromania« ist ein Buch für Musikfans, geschrieben von einem Journalisten, der von Popkultur überrascht werden möchte und darin meistens enttäuscht wird.

 

Passend zum Gegenstand strotzt das Buch vor Querverweisen auf die Forschung zum kulturellen Gedächtnis, Theorien zum Medienwandel oder Fredric Jamesons Beschreibung des »Retro-Modus« in der Postmoderne. -Reynolds legt allerdings keine allgemeine Theorie von Retro und Nostalgie vor, sondern bindet Theorie stets an Musik zurück und die Bedingungen, unter denen sie hergestellt und gehört wird. Vampire Weekends Song »Diplomat’s Son« etwa beweist laut Reynolds, wie eine Rekombination von Altbekanntem gerade dann etwas über die Gegenwart verrät, wenn sie unbekannte Erzählstränge und Querverweise der Popgeschichte zum Vorschein bringt und damit all diejenigen kritisiert, die im Akt der bloßen Neuzusammensetzung bereits eine kulturelle Leistung sehen.

 

Reynolds’ Darstellung lebt von einem normativen Kern. Er beharrt darauf, dass Pop (meistens meint er Popmusik), fähig sein kann, die Gegenwart durch eine Art Schock des Zukünftigen präziser zu beschreiben als dies durch die Abfolge von Trends und Mikro-Trends geschehen kann, die Pop eh schon inhärent ist. Dass dieser Gedanke in seinen Grundzügen von Walter Benjamin übernommen ist, soll an dieser Stelle nicht weiter stören. Genau dadurch wird der Unterschied zu einer Haltung deutlich, die Retro als überzeitliche Praxis beschreibt und die sich mit der Parole »Alles ist ein Plagiat, alles ist ein Remix« beruhigt. Musiker werden in dieser Perspektive zur »mit Bewusstsein begabten Suchmaschine« und die gerade einmal 25 Jahre alte Praxis des Remixens, die durch moderne Studiotechnologie ermöglicht wurde, wird zum Wesen von Kunst deklariert. Fragen nach Originalität oder Innovation müssen so als zwangsläufig kunstfremd erscheinen.

 

Zeitgenössisch ist eine solche Position übrigens nicht: Schon 1902 schrieb Hugo von Hoffmansthal mit den »Chandos-Brief« ein Lob der diffusen Identität! Die Apologeten der digitalen Remix-Kultur haben noch nicht zu einer eigenen Sprache gefunden. »Guter Retro enthält immer eine Spur der Trauer«, hat Simon Reynolds kürzlich bei seiner Buchvorstellung im King Georg diesen Unterschied beschrieben. »Retromania« ist seine Trauerarbeit — ein Buch -darüber, wie die Gegenwart die Zukunft aufgegeben hat, weil wir die Vergangenheit nicht mehr als Geschichte begreifen wollen.

 

Buch: Simon Reynolds, »Retromania. Wenn der Popkultur die Vergangenheit ausgeht«, Ventil Verlag, Mainz 2012, 540 S., 29,90 Euro