»Ich war immer ein faszinierter Beobachter der Wirklichkeit«

Romantik und Ausbeutung: Ein Gespräch mit Ulrich Seidl über seinen Film »Paradies: Liebe«, weiblichen Sextourismus und die Schonungslosigkeit des österreichischen Films

Warum zeigen Sie Sextourismus aus der Perspektive von Touristinnen? Natürlich ist das noch ein tabuisiertes Thema, es ist aber umso interessanter, weil es nicht nur etwas über diese Frauen aussagt, die in Kenia als sogenannte Sugarmamas ihre Liebessehnsüchte stillen, sondern auch etwas über unsere Gesellschaft.



Was ist der Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Sextourismus?
Der männliche Sextourismus funktioniert viel mehr nach geschäftlichen Voraussetzungen. Es wird etwas angeboten und das hat seinen Preis. Der weibliche Sextourismus hat mehr mit romantischen Gefühlen zu tun. Die Frauen suchen die Anbahnung, Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit und auch Wertschätzung. Die afrikanischen »Beachboys« sind äußerst begabt darin, den Frauen dieses Gefühl zu vermitteln. Da spielt es überhaupt keine Rolle, wie alt die Frauen sind und welches Aussehen sie haben.



Am Strand gibt es zwischen den Touristinnen und den Beachboys eine unsichtbare Grenze. Der Strand ist öffentlich. Dort halten sich die Händler und Beachboys auf. Ab einer bestimmten Grenze beginnt aber das Hotelareal, das von Sicherheitskräften bewacht wird. Als Weißer kommt man überall hinein, als Schwarzer nicht. Die touristischen Anlagen in Kenia — das ist eine westliche Welt, die mit dem Land gar nichts zu tun hat. In direkter Nachbarschaft sind die Wohnquartiere der Afrikaner, wo eine Armut herrscht, wie ich sie noch nie gesehen habe. Die Afrikaner versuchen natürlich am Tourismus mitzunaschen. Alle Verhältnisse zu weißen Touristen sind Geldverhältnisse. Die Struktur hat sich seit dem Kolonialismus nicht grundlegend geändert. Die Weißen haben immer noch das Sagen, auch wenn die Vorzeichen andere geworden sind.

 

»Paradies: Liebe« lebt auch von der Körperlichkeit der Figuren. Wie wichtig ist dieser Aspekt? Alle meine Filme sind sehr körperlich, weil ich glaube, dass es wichtig ist, Filme physisch zu machen und den Zuschauer so nahe wie möglich an die Figuren heranzubringen. Aber in diesem Film wird Körperlichkeit zum zentralen Thema. Es geht um eine Frau, die nicht unseren verordneten Schönheitsidealen entspricht und deshalb versucht, ihre Sehnsucht nach Liebe woanders zu stillen.



Gab es dabei Dinge, die Sie definitiv nicht zeigen wollten? Es kommt darauf an, wie die Inszenierung funktioniert, da setze ich in der Situation dann auch Grenzen. Aber es war zum Beispiel nie geplant, explizit Geschlechtsverkehr zu zeigen, was thematisch durchaus nahe gelegen hätte.



Die Gespräche der Frauen untereinander wirken authentisch. Wie haben Sie die Dialoge erarbeitet? Alle Gespräche sind improvisiert, aber es gibt Vorgespräche, und ich weiß, wenn ich dieses oder jenes Thema wähle, was die Schauspielerinnen dazu zu sagen haben.



Den improvisierten Dialogen stehen statische, durchkomponierte Kameraeinstellungen gegenüber. Diese Einstellungen sind millimetergenau eingerichtet. Ich versuche immer, das natürliche Spiel mit meiner künstlerischen visuellen Gestaltung zu verbinden. Ein Reportagestil ist für mich nicht interessant, weil ich über den Dialog hinaus etwas mit dem Bild erzählen will.



Woher kommt Ihre Vorliebe für die Gratwanderung zwischen Dokumentar- und Spielfilm? Auf der einen Seite war ich immer ein faszinierter Beobachter der Wirklichkeit. Aber auf der anderen Seite hatte ich stets das starke Bedürfnis zu gestalten, die Dinge wie ein Maler und Fotograf aus meinem Blickwinkel zu zeigen. Zwischen diesen Ansätzen versuche ich immer wieder eine Verbindung herzustellen.



Ihre Filme schauen genau in die seelischen Abgründe der Menschen. Hat das Ihr Menschenbild verändert? Grundsätzlich hat sich mein Menschenbild nicht verändert. Ich empfinde es als Privileg, Menschen kennenlernen zu dürfen und an ihrem Schicksal teilzunehmen. Das ist manchmal sehr deprimierend, aber dann auch wieder eine ungeheure Bereicherung, weil man in diesem Prozess sehr viele Erkenntnisse gewinnt.

 

Im Vergleich zum deutschen Film zeigt der österreichische sehr viel schonungsloser die Verfassung des Menschen und den Zustand der Gesellschaft. Das kann man nicht nur im Film, sondern auch in anderen Kunstrichtungen feststellen. Die Schonungslosigkeit hat in Österreich auch damit zu tun, dass wir Jahrzehnte gebraucht haben, um unsere Rolle in der Nazizeit klarzustellen. Wenn eine Gesellschaft bestimmte Dinge verschleiert und mit ihrer Vergangenheit verlogen umgeht, wird die Kunst umso hartnäckiger versuchen dagegen vorzugehen.



Wie werden Ihre Filme in Deutschland wahrgenommen? Die Fördergeldanträge für das »Paradies«-Projekt, zu dem noch zwei weitere Filme gehören, wurden in Deutschland zweimal abgelehnt (die Film- und Medienstiftung NRW fördert allerdings den Verleih des von der Kölner Firma Tatfilm koproduzierten Films; Anm. d. Red.). Die Begründung war quasi, dass das ein frauenfeindlicher Film sei, was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann. Aber vielleicht gibt es in Deutschland auch ein gewisses Konkurrenzdenken, weil das kleine Filmland Österreich so viel internationale Aufmerksamkeit bekommt.


Ulrich Seidl
Ulrich Seidl (Jahrgang 1952) wurde für Dokumentarfilme wie »Good News« (1990), »Tierische Liebe« (1995) und »Models« (1998) mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Sein erster Spielfilm »Hundstage« erhielt 2001 den Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen in Venedig. Sein dritter Spielfilm »Paradies: Liebe« ist der erste Teil eines Filmtriptychons über drei Frauen, die auf sehr unterschiedliche Weise nach dem Glück suchen.