Tiger zum Anfassen

Supermärchen in 3D: »Life Of Pi« von Ang Lee

Alles fängt im Paradiesgarten an. Die Sonne scheint, und exotische Tiere wie Flamingos, Flusspferde und Zebras spazieren durchs Bild. Im Hintergrund singt eine sanfte Frauenstimme. So wird schon im Vorspann zu Ang Lees 3D-Verfilmung des Bestellerromans »Life Of Pi« klar: Der Zoo im südindischen Städtchen Pondicherry, der dem Vater des Haupthelden Pi gehört, ist der Himmel auf Erden. Und Pi — benannt nach dem Pariser Schwimmbad Piscine Molitor — befindet sich zu Beginn mitten drin.

 

Pi ist ein ungewöhnlich religiöser Junge, schon mit zwölf hat er eine beeindruckende Erleuchtungskarriere als Hindu, Christ und Moslem hinter sich. Da er alle drei Religionen mühelos unter einen Hut kriegt, glaubt er, sich auch mit Richard Parker anfreunden zu können, so heißt der bengalische Tiger des Zoos. Also hält Pi der Raubkatze irgendwann lockend ein Fleischstück durch die Gitterstäbe. Sein Vater kann ihn gerade noch rechtzeitig vom Gehege wegziehen. »Ein Raubtier ist niemals dein Freund« belehrt er den erschrockenen Sohn. Es ist die entscheidende Lektion vor der zwangsläufig folgenden Vertreibung aus dem Zoo-Paradies. Als die Familie ein paar Jahre später nach Kanada auswandert, sinkt ihr Schiff im Sturm. Der nun 16-jährige Pi entkommt als einziger in einem Rettungsboot, allerdings zusammengepfercht mit dem wilden Richard Parker. Wie aber überlebt man mit Tiger an Bord?

 

Drehbuchautor David Magee hält sich zur Beantwortung dieser Frage weitgehend an Yann Martels Vorlage und schaltet immer wieder den erwachsenen Pi als Rahmenerzähler ein. Von daher weiß man früh, dass dessen moderne Hiobsgeschichte letztlich gut ausgehen wird. Und natürlich hat sich Lee, der wie kein anderer US-Regisseur den Spagat zwischen Kunst und Kommerz beherrscht, nicht die Chance entgehen lassen, Pis wahnwitzigen Ozeantrip digital gehörig aufzupeppen. Nicht nur der fauchende Tiger im Boot, sondern auch Wellenbrecher, Haie, fliegende Fische und ein Pottwal sehen erstaunlich echt aus. »Normalerweise werden sensible Plots billiger umgesetzt«, erklärte Lee der Herald Tribune die mehr als 70 Millionen Dollar Produktionskosten. »Aber nur, weil bislang niemand einen intimen Film in 3D gemacht hat, heißt das nicht, dass es nicht geht.«

 

Tatsächlich ist »Life of Pi« Eventkino mit allem, was dazugehört: spektakuläre Bilder, dramatische Geigenklänge und »Es tut mir so leid«-Schreie des talentierten Laiendarstellers Suraj Sharma. Das ist manchmal Kitsch, aber immer faszinierend, und so verzeiht man Lees Supermärchen, dass darin vor lauter Effekten Martels Clou eines ästhetischen Gottesbeweises untergeht. Demnach sind Geschichten von Tigern und Göttern zwar nicht unbedingt wahr, aber einfach die besseren Geschichten.

 

Life of Pi (dto) USA 2012, R: Ang Lee, D: Suraj Sharma, Irrfan Khan, Gautam Belur, 127 Min.