Der Guru und das Biest

Kein Scientology-Epos: »The Master« von Paul Thomas Anderson

Eine Einstellung lang ist »The -Master« noch im Krieg. Der Rest ist zweieinhalb Stunden libidinöse Nachkriegspsychose seiner Hauptfigur Freddie Quell, ohne Therapieperspektive, dafür mit wechselnden Triebventilen. Es beginnt gleich in der zweiten Szene des Films: Da feiert Quell mit seinen Kameraden das Ende des Zweiten Weltkriegs am Strand, macht sich über eine Frau her, allerdings über eine, die behelfsmäßig aus Sand zurechtgeklopft ist, und masturbiert anschließend ins Meer — später steckt er auch schon mal mehr oder weniger unbekannten Frauen Zettel mit der Aufschrift »You want to fuck?« zu.

 

Der Versuch, eine bürgerliche Existenz zu gründen — als Porträtfotograf in einem Kaufhaus — scheitert schnell und drastisch. Statt dessen stolpert der schon von seinem Habitus her aus allen sozialen Rahmungen gefallene und noch dazu dem Alkohol ausgesprochen zugetane Drifter — Joaquin Phoenix kultiviert ein ganzes Arsenal nervöser Ticks — eines Nachts auf das Schiff des Schriftstellers Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman), der gerade dabei ist, zu einer längeren Reise aufzubrechen — und eine Organisation zu gründen, deren historisches Vorbild offensichtlich ist: Scientology.

 

Ein L.-Ron-Hubbard-Biopic ist »The Master« nicht einmal im weitesten Sinne. Keinerlei Interesse hat der Film am Nacherzählen des Aufstiegs der Organisation oder an allem anderen, was einen klassisch konstruierten Historienfilm interessieren könnte. In erratischen Erzählbewegungen beschreibt Paul Thomas Anderson statt dessen das Aufeinandertreffen und Aneinanderscheitern zweier miteinander unvereinbarer Exzentriker. Der lebensfrohe Megalomane Dodd wendet sich von der (guten) Gesellschaft ab, um eine andere zu Gründen. Quell ist auf eine grundsätzlichere Art und Weise mit seiner Umwelt inkompatibel.

 

»The Master« ist ein außergewöhnlicher Film, dessen ausgestellte Virtuosität, vor allem hinsichtlich des Schauspiels der beiden Hauptdarsteller, durchaus auch auf die Nerven gehen kann. Gedreht wurde auf 65mm, jenem eigentlich längst totgeglaubten Filmmaterial, das hinsichtlich seiner visuellen Brillanz und Detailfülle noch jedes digitale Aufnahmemedium in den Schatten stellt. Es lohnt sich, nach Vorführungen im Originalformat Ausschau zu halten (leider gibt es in Köln die nötige Technik nicht mehr; Anm. d. Redaktion), gerade weil Andersons Kamera nicht aufs Breitwandspektakel zielt, sondern intensive, intime Gesichtsstudien betreibt. Das Interesse gilt nicht dem großen Ganzen der Zeitgeschichte, sondern der Träne in Phoenix’ Augenwinkel.