Foto: Manfred Wegener

»Nicht nur die spekta­­ku­lärste Situation schildern«

Wir haben mit dem Kölner Schriftsteller Navid Kermani über die Arbeit des Berichterstatters, Nationalstaaten und die Grenzen der Neutralität gesprochen

Navid Kermani ist vieles. Er ist Schriftsteller, er ist habilitierter Orientalist, er hat einen deutschen und einen iranischen Pass, er hat in einem tollen Buch über Neil Young festgestellt, dass es nichts besseres gegen frühkindliche Drei-Monats-Koliken gibt als die Musik des »Godfather of Grunge«. Und er gilt als geistiger Vater der im vergangenen Jahr eröffneten Kölner Akademie der Künste der Welt. Er hat 2009 den Hessischen Kulturpreis für besondere Verdienste um den Dialog zwischen den Religionen erhalten, obwohl sich Mitpreisträger Kardinal Karl Lehmann zunächst an einem Artikel Kermanis über das christliche Kreuz gestört hatte. Vor allem aber ist Kermani ein genauer und kenntnisreicher Beobachter des Nahen und Mittleren Ostens.

 

In seinem neuen Band »Ausnahmezustand« versammelt er wie schon in der Aufsatzsammlung »Schöner neuer Orient« Reportagen aus der »beunruhigten Welt«. Die ursprünglich in der Süddeutschen Zeitung, der taz, der Neuen Zürcher Zeitung und der Zeit erschienenen Reportagen sind im Sinne einer Reise von Ost nach West angeordnet, von Indien über Afghanistan und Syrien bis ins Auffanglager auf der Mittelmeerinsel Lampedusa. Kermani bringt die Geschichten somit Kapitel für Kapitel näher an unseren Alltag, an unser Leben, an unser Bewusstsein heran. Er blickt auf den existent-nichtexistenten Konflikt in Kaschmir, er zieht mit Landlosen von Agra nach Delhi, trifft Künstler in Afghanistan und zeigt uns Pakistan nicht als Heimstatt des Terrors, sondern als Zentrum der islamischen Mystik.

 

In seinem kleinen Arbeitszimmer am Eigelstein sitzt der 45-Jährige und spricht über die Arbeit als Berichterstatter. Anstrengend sei das, auslaugend. Demnächst braucht er eine Auszeit. Mal woanders hin, sagt er.

 

Herr Kermani, Ihr soeben erschienener Reportagenband heißt »Ausnahmezustand«. Kann man in Ländern wie Afghanistan oder der Region Kaschmir überhaupt noch von einem Ausnahmezustand sprechen? In vielen Fällen haben sich die Menschen an diesen Ausnahmezustand gewöhnt. In Kaschmir ist eine ganze Generation seit 1989 damit aufgewachsen, dass alle 200 Meter ein Soldat steht. Ich möchte mich aber nicht an diese Normalität gewöhnen. Gerade vergangene Woche habe ich gelesen, dass mehr als 60 Menschen bei einem Massaker in Syrien gestorben sind. Das war nur eine kleine Meldung, nicht einmal zwanzig Zeilen. Meine Reportagen lehnen sich auch gegen diese Art von »Normalisierung« des Schreckens auf.

 

Also ist der Titel ein Appell, die Situationen eben doch als Ausnahmezustand zu verstehen? Ich bin immer sehr zurückhaltend mit dem Begriff Appell. So ein Buch ist ja kein Aufruf, dieses oder jenes zu tun. Ich hatte dieses Mal noch stärker als bei meinem vorherigen Reportageband »Schöner neuer Orient« das Gefühl, dass meine Aufgabe im Beschreiben besteht.

 

Gibt es diese klaren Grenzen zwischen Berichterstattung und Teilnahme überhaupt? Ich selbst kann nur schreiben aus einem Moment der Empathie. Ich verliebe mich häufig in Länder, die ich besuche, und in die Menschen dort. Der Arbeitsvorgang ist eine Aneignung, ein Sich-Hingeben, und das ist ohne einen Moment der Begeisterung oder der Liebe nicht möglich. Der nächste Schritt beim Schreiben ist dann, das auch wieder zurückzunehmen und möglichst kühl, scheinbar unbeteiligt zu beschreiben.  Aber es ist natürlich nicht unbeteiligt. Die Emotionen sind nur um der Genauigkeit und auch Gerechtigkeit willen zurückgedrängt, genauer gesagt zwischen die Zeilen gepresst.

 

Das gelingt nicht immer. Im Kapitel »Die eigene Kapitulation« über ihren Palästina-Besuch im April 2005 stellen Sie fest, dass Sie an einen Punkt gelangt sind, wo es ihnen nicht mehr gelingt, neutral zu sein. Wo sie nicht mehr nur berichten, sondern urteilen, weil sie »an der israelischen Realität abgeprallt« sind. Es ist wichtig, die Situation zu beschreiben, in der das passiert ist. Ich wollte nach Gaza einreisen. Der israelische Grenzbeamte sah meinen deutschen Pass und fragte mich, was ich da wolle. Ob ich Tierarzt sei. Da fällt einem die Kinnlade runter. Man muss mit solchen Erlebnissen aber sehr vorsichtig umgehen. Wenn ich das kontextlos einfach geschrieben hätte, wäre das ein Urteil gewesen über Israelis als solche. Aber wenn ich neben vielen anderen, auch anders gelagerten Eindrücke eben auch diese Situation beschreibe, in der ich aus der Rolle des Berichterstatters herausgefallen bin, dann ist das möglich, ohne, dass man in eine Ecke geschoben wird. Beziehungsweise ein ganzes Land, ein ganzes Volk in eine Ecke schiebt.

 

Es ist also wichtig, den Verlust der Neutralität anzumoderieren? Man muss vorsichtig sein mit der Auswahl seiner Erlebnisse. Ein anderes Beispiel ist mein Besuch in Afghanistan. Ich habe bei dieser Reise sehr viele positive Erfahrungen mit Soldaten gehabt, aber im US-amerikanischen Hauptquartier in Bagram traf ich auch auf das Klischee des dummen, martialischen Amerikaners. Das habe ich damals aus dem Zeitungsbericht herausgenommen. Der Text war dafür zu kurz, da stimmt dann das Verhältnis nicht mehr. Jetzt in der langen Fassung im Buch habe ich das drin. Es ist ja nicht so, dass die Nato oder die Amerikaner überall derart gorillamäßig auftreten würden, aber es ist eben auch ein Teil der Realität, mit dem man sorgfältig umgehen muss. Das ist die Verantwortung, die man hat. Nicht immer nur die spektakulärste Situation zu schildern. Es mag sein, daß auf Journalistenschulen gelehrt wird, mit der dramatischsten Szene einzusteigen — ich halte mich nie daran. Manchmal gibt es da auch Konflikte mit Redakteuren, die meine Texte sozusagen anschärfen möchten.

 

Zu den berührendsten und intensivsten Passagen des Buchs gehören für mich die Begegnungen der von islamistischen Fundamentalisten unterdrückten Sufis in Pakistan. Sie zeigen damit den Islam in seiner Vielfalt, als pluralistische Religion. Das ist ein Aspekt, der hierzulande häufig völlig ignoriert wird, aber einen großen Teil der Alltagsrealität prägt. In einem Land wie Pakistan ist die Mehrheit der Menschen eben nicht fundamentalistisch, sondern vom Fundamentalismus bedroht, weil sie einer mystischen Volksfrömmigkeit anhängen. Auch in Mali findet ein Kampf gegen den Sufismus statt. Deswegen sind die meisten Menschen dort froh, wenn die Islamisten weg sind, weil das ein Kampf gegen sie selbst ist.

 

Sie haben 2011 in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau kritisiert, dass die Europäer die arabischen Revolutionen immer noch durch eine »eine religiös gefärbte koloniale Brille« betrachten würden. Die Konflikte hingen nicht so sehr mit Religion und Radikalisierung, sondern mit ökonomischen und sozialen Fragen zusammen. Im Kern sind das wie fast überall soziale Konflikte, auch wenn sie sich immer häufiger in einem ethnischen oder religiösen Vokabular ausdrücken. Man muss dieses Vokabular ernst nehmen. Das allein genügt aber nicht, um die Ursachen eines Bürgerkriegs oder Aufstandes zu verstehen.

 

Das jüngste Kapitel stammt vom September 2012. Sie waren damals in Syrien. Sie haben in Interviews kritisiert, dass gar nicht mehr wahrgenommen werde, dass hier ein Volk für Freiheit kämpft. Woher kommt diese Fehlwahrnehmung oder gar Leugnung? Das war lange Zeit ein friedlicher Aufstand. Die Leute haben mit zivilen Mitteln gekämpft. Sie haben keine religiösen Forderungen erhoben, sondern politische. Der Aufstand ist dann gekippt, hin zur Gewalt, als Reaktion auf staatliche Massaker. Natürlich gibt es mittlerweile auch auf Seiten der Opposition gefährliche Elemente, da sind Waffen im Spiel, es kommt Geld aus den Golfstaaten für extremistische Kräfte, und da werden auch Menschenrechte verletzt. Aber die große Mehrheit der Menschen strebt weiter nach Freiheit und ist eben keineswegs radikal, sondern kämpft unter hoher persönlicher Gefahr weiterhin mit zivilen Mitteln. Diese Differenzierung nehmen wir nicht mehr vor. Wenn man heute hier die Zeitung aufschlägt, könnte man meinen, die schlagen sich dort alle einfach nur die Köpfe ein: Alle sind brutal, und man weiß nicht, zu wem man halten soll.

 

Trotzdem beschreiben Sie die Atmosphäre und die Menschen als sehr offen. Hat Sie das selbst überrascht? Ja, vor allem, weil ich Syrien kannte und das Land immer als sehr repressiv wahrgenommen habe. Ich war in den 90er Jahren dort, das war ein absoluter Geheimdienst-Staat. Da konnte man im Teehaus nicht offen über Politik sprechen. Diese Angst ist nun weg. Die Angst ist nun auf einer anderen Ebene da, vor Gewalt und vor Krieg.

 

Einen besonderen Bezug haben sie zu Ägypten. Ein Besuch in einer Teestube in Kairo bildet die Rahmenhandlung ihrer Reportagen in »Ausnahmezustand«. 2011 waren Sie sehr euphorisch ob der damaligen Ereignisse, sprachen von einer Revolution »ohne Führergestalten und programmatischen Überbau«. Wie beurteilen Sie die Lage dort momentan? Ich habe auch damals schon gewusst, dass das ein langer Marsch wird. Eine große Revolution wie die ägyptische, die vergleichbar ist mit den großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, entscheidet sich nicht im ersten oder zweiten Jahr. Natürlich ist die jetzige Lage, in der eine unheilige Allianz von Islamisten und Militärs das Land beherrscht, bedrohlich. Aber der Widerstand ist ja auch immer noch stark, die Menschen haben ihre Resignation, ihre Passivität überwunden. Zum ersten Mal wird offen und sehr scharf über das Gesellschaftsmodell der Islamisten diskutiert. Das war ja alles unter Verschluss, solange die Islamisten den Nimbus der Verfolgten hatten. So frustrierend die politische Situation ist, gibt es in der Gesellschaft unheimlich viele ermutigende Entwicklungen. Die Menschen akzeptieren es einfach nicht mehr, wenn jemand etwas von oben anordnet.

 

Neben den Konflikten, die auch hier tagtäglich in den Nachrichten diskutiert werden, berichten Sie auch von vernachlässigten Schauplätzen wie der indischen Provinz Kaschmir. Sie schreiben, dass für viele dieser bereits lange andauernden Konflikte — neben Kaschmir nennen Sie auch Tschetschenien — Lösungen möglich wären. Wie sähen die aus? Es gibt viele Konflikte, bei denen eigentlich alle Beteiligten wissen, wie die Lösung aussehen wird. Jeder weiß, dass Kaschmir kein eigener Staat und auch nicht Teil Pakistans wird. Es geht um Autonomie, um offene Grenzen. Da ist eigentlich auch schon alles besprochen zwischen Indien und Pakistan. Aber es fehlt der Druck auf die Staaten. Der Antrieb, es wirklich zu vollziehen. Selbst in Palästina wissen oder wussten alle, wie man das lösen könnte. Die ganzen Friedenspläne sind ja schon bis ins Detail formuliert gewesen. Nun hat sich das alles in den vergangenen Jahren verschärft und es sind so viele Siedlungen gebaut worden im Westjordanland, dass die Zwei-Staaten-Lösung beinah schon obsolet geworden zu sein scheint. Vielleicht muss man jetzt auch nach utopisch scheinenden Lösungen jenseits des Nationalstaates gucken, in größeren regionalen Zusammenhängen. Ich bin aber eindeutig der Falsche, um einen Lösungsplan für den Nahen Osten zu entwerfen. Ich sehe nur, dass die alten Lösungen von Tag zu Tag unrealistischer werden.

 

Am Ende des Buches, nach ihrer Reise von Ost nach West, steht die Mittelmeerinsel Lampedusa. Dort zeigt sich, wie die Europäer mit der Flüchtlingssituation umgehen: Nichts sehen, nichts mitbekommen. Die Menschen, mit denen Sie sprechen, geben vor, gar nicht so richtig zu wissen, was hinter den Zäunen im Auffanglager passiert. Das ist absolut gespenstisch. Es gibt dort rund 5000 Einwohner und durchschnittlich rund 1000 Flüchtlinge — und zwar auf wirklich wenigen Quadratkilometern. Da gibt es das Dorf, dann fährt man einen Kilometer Straße zum Camp. Wie man es schafft, auf so engem Raum die Realität des Anderen, des unmittelbaren Nachbarns fernzuhalten, ist exemplarisch für die gated community, in der wir in gewisser Weise alle im Westen leben.

 

Das Kapitel endet mit dem Kapitän, der vor Lampedusa 65 Menschen auf offener See gerettet hat. War ihnen dieser optimistische Ausstieg wichtig? Ich glaube trotz allem, dass die menschliche Handlung etwas verändern kann. Das sagt ja auch im Epilog der Teestuben-Inhaber in Kairo, der aus dem Koran zitiert, wo es sinngemäß heißt: Es werden die Dinge sich nicht ändern, wenn der Mensch sich nicht ändert.

 

Ein Beitrag zur Veränderung ist auch das Berichten darüber. Jeder hat so seine Aufgabe. Das ist vielleicht meine.

 

In Indien beschwert sich eine muslimische Frau, die sie nach dem Massaker von Hindus an Muslimen im Bundesstaat Gujarat von 2002 fragen, dass immer nur die gleichen Fragen gestellt würden, sich aber nichts ändere. Ein Vorwurf, mit dem man als Berichterstatter leben muss? Wenn man seine Aufgabe als Autor politisch versteht, dann ist das ja niemals so gemeint, als würde konkret dieses eine Buch oder diese eine Reportage die Welt verändern. Aber ich glaube daran, dass Bücher als solche die Welt verändern können, das schon.

 

Navid Kermani, »Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt«,

C.H. Beck Verlag 2013 , 253 Seiten

mit zehn Karten, 19,95 Euro