Aus dem Schatten heraus

Die Initiative Work-Watch kümmert sich um die Interessen von Arbeitnehmern.

Alltag in Deutschland: Millionen Menschen arbeiten, ohne eine Chance zu haben, auch nur das Existenzminimum zu erreichen. Sie werden von aggressiven Aufsehern drangsaliert und kennen Arbeitsschutz- und Arbeitszeitregelungen nur vom Hörensagen.

 

In der Theorie dürfte es solche Fälle in der Bundesrepublik überhaupt nicht geben. Arbeiter und Angestellte haben verbriefte Rechte, können Betriebsräte wählen, die ihre Interessen gegenüber der Unternehmensleitung vertreten, und haben zudem die Möglichkeit, einer Gewerkschaft beizutreten.

 

Doch zwischen Theorie und Wirklichkeit klafft eine Lücke, und sie wird vom Jahr zu Jahr größer. Das erlebten der ehemalige StadtRevue-Redakteur Albrecht Kie­ser und Enthüllungsjournalist Günter Wallraff bei gemeinsamen Recherchen zum Thema Bossing im Jahr 2011. "Günter Wallraff hat das Thema für das Fernsehen aufbereitet, ich für den WDR. Wir haben damals beschrieben, mit welchen Methoden Unternehmen Arbeitnehmer und Betriebsräte unter Druck setzen, um sie gefügig zu machen." Das ganze hätte beide an psychologische Kriegsführung erinnert. "Uns war klar, dass mit dem Ende der journalistischen Arbeit nicht auch das Thema beendet sein darf. Wir planten, Work-Watch aufzubauen", erklärt Kieser.

 

Nach vielen vergeblichen Versuchen, Geldgeber für das Projekt zu finden, sagte schließlich "Arbeit und Leben", die gemeinsame Weiterbildungseinrichtung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Volkshochschulen in Nordrhein-Westfalen, Unterstützung zu und trägt Work-Watch nun gemeinsam mit der Günter-Wallraff-Stiftung. Die Finanzierung ist für zwei Jahre sichergestellt. Ein prominent besetzter Beirat, zu dem unter anderem der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU), NRW-Sozialminister Guntram Schneider (SPD) und der DGB-Vorsitzende in NRW, Andreas Meyer-­Lauber, gehören, unterstützt Work-Watch.

 

Besonderes Augenmerk der Arbeit von Work-Watch genießt seit Beginn der Arbeit die Logistikbranche. Der stark wachsende Internethandel hat zu einem Boom geführt. Unternehmen wie Marktführer und Post-Tochter DHL konnten in den vergangenen Jahren sowohl Umsatz als auch Gewinn steigern. DHL steuert auf eine Milliarde Pakete pro Jahr zu. 2011 waren es noch rund 800 Millionen. Bei der Konkurrenz UPS, FedEx, Hermes oder DPD sieht die Entwicklung ähnlich aus.

 

Die Arbeiter in den Verteilzentren und hinter den Lenkrädern der gelben, weißen und braunen Auslieferungswagen profitierten davon jedoch nicht. "In immer mehr Betrieben wird Personal abgebaut. In der gesamten Branche wird vor allem die Auslieferung an Subunternehmer abgegeben", so Kieser. Bei diesen Subunternehmen, die in der Regel von einem großen Kunden abhängig sind, müssen Fahrer oft bis zu 14 Stunden arbeiten. Stundenlöhne von vier, fünf oder sechs Euro sind die Regel. Schwarzarbeit ist für viele Fahrer ein Muss, um über die Runden zu kommen. "DHL, das sich ja gerne als Musterunternehmen präsentiert, hat den gesamten Express-Bereich an Subunternehmen vergeben. Beim normalen Paketdienst wird ebenfalls immer weiter ausgegliedert", weiß Kieser. Das Problem: die Fahrer der Subunternehmer haben keine Betriebsräte, sie sind nicht gewerkschaftlich organisiert, sind die weitgehend rechtlosen Fußtruppen des Internet-Booms.

 

Aber der Fall Amazon hat gezeigt, dass nicht nur für die Auslieferungsfahrer die Ausbeutung Alltag geworden ist: "Immer mehr Unternehmen setzen, gerade in den Stoßzeiten wie vor Weihnachten, immer wieder Aushilfskräfte ein." Und da gerade in Süddeutschland der Arbeitsmarkt leer gefegt ist und immer weniger Menschen bereit sind, für miese Löhne zu arbeiten, rekrutieren die Unternehmen  immer häufiger, wie Amazon in Nordhessen, Mitarbeiter aus den wirtschaftlich zusammenbrechenden Staaten Süd- und Südosteuropas.

 

Zur Verschlechterung der Situation der Arbeiter haben auch Strategien der Unternehmen gegen Betriebsräte beigetragen. "Es gibt", sagt Kieser, "zwei Wege, wie Unternehmen gegen Betriebsräte vorgehen." Der eine ist brachial: Wenn sich die Wahl von Betriebsräten nicht vermeiden lässt, werden sie unter Druck gesetzt. Kanzleien wie Naujocks in Hamburg oder Schreiner aus Attendorn, die auch eine Niederlassung in Köln haben, beraten Unternehmen bei ihrem Kampf gegen Arbeitnehmervertreter. "Mit der Unterstützung von Anwälten wird versucht, Betriebsräte in ihrer Arbeit zu stören und zu behindern", so Kieser.

 

Schreiner wirbt auf seiner Internetseite offen für eine Tagung im Kölner Hotel Maritim im April, auf der Teilnehmern Tipps gegeben werden, wie sie Betriebsräte loswerden. Seminarinhalte sind unter anderem: "Kündigung von "Unkündbaren": So trennen Sie sich von Betriebsräten". Gebühr für einen Tag: 595 Euro. "Die Betriebsräte werden fertig gemacht und sollen aufgeben. Viele zerbrechen, einige mussten sich schon in psychiatrische Behandlung begeben", sagt Kieser.

 

Ein anderer Weg sind unternehmensnahe Betriebsräte. Arbeitervertreter, die sich den Chefs näher fühlen, als ihren Kollegen, gab es schon immer. Und immer konnten sie sich der besonderen Unterstützung der Unternehmensleitung sicher sein. Solche Betriebsräte erfreuen sich einer zunehmenden Beliebtheit: "Ein Unternehmen, das einen ihm nahen Betriebsrat hat, ist auf der sicheren Seite: Alle rechtlichen Bedingungen sind erfüllt, man kann sich nach Außen als sozial und offen präsentieren und hat trotzdem die Belegschaft im Griff.

 

Aktuelles Beispiel für den Versuch, einen solchen Betriebrat zu installieren, ist der UPS-Stützpunkt auf dem Köln-Bonner Flughafen. Seit 1986 hat UPS seinen Europa-Umschlagplatz auf dem Flughafen, seither ist der Standort Köln von zentraler Bedeutung für das Wachstum von UPS in Europa: "Die UPS-Abteilung Labour Rela­tion", sagt Kieser, "versucht, die Betriebsräte von Verdi am Flughafen-Standort  durch ihm genehme Betriebsräte zu ersetzen." In E-Mails, die Work-Watch vorliegen, macht Labour Rela­tion Vorschläge, wie die Betriebsräte zu schnellen Erfolgen kommen können, mit denen sie dann vor den Arbeitnehmern Eindruck schinden können.

 

Nach Ansicht von Work-Watch ist ein Erfolg auf dem Feld des Betriebsrats von strategischer Bedeutung für UPS. Mit einem gefügigen Betriebsrat lässt sich die Ausweitung von Teilzeitarbeit, die Auslagerung von Aufgaben an Subunternehmer und die Zunahme befristeter Stellen leichter umsetzen, als mit einem Betriebsrat, der konsequent die Interessen der Beschäftigten vertritt.

 

Druck auf Betriebsräte, die Zunahme von Billigjobs, erzwungene Scheinselbständigkeit  - immer mehr Arbeitnehmer werden an den Rand der Gesellschaft gedrückt. Dagegen wollen Kieser und Wallraff etwas unternehmen: "Unser langfristiges Ziel", sagt Kieser, "ist es, eine NGO für Arbeitnehmerinteressen zu werden. Wir wollen die Öffentlichkeit über die Verhältnisse in den Betrieben aufklären." Irgendwann soll es Work-Watch-Gruppen in ganz Deutschland geben, Initiativen ihren Blick auf die Arbeitsverhältnisse richten und Protest und Aufmerksamkeit organisieren."