Die sinnlichen Maschinen des Herrn Xenakis

Das Kölner Acht Brücken Festival widmet sich der Elektroakustik

und vor allem dem Komponisten Iannis Xenakis

Das bekannteste Bild vom griechisch-französischen Komponisten Iannis Xenakis (1922-2001) ist ein Schwarz-Weiß-Foto aus dem Jahr 1975. Das Foto zeigt ihn frontal von vorne, die linke Gesichtshälfte liegt im tiefen Dunkel. Was sich im Schwarz der kontrastreichen Fotographie verbirgt, ist eine Verletzung aus den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges. Bei einem Gefecht hatte sich der Splitter einer Granate in sein Gesicht gebohrt, den Kiefer zerschmettert und das Auge herausgetrieben. Zunächst für tot gehalten und zurückgelassen, wurde er von seinem Vater gefunden und in ein Krankenhaus gebracht, beinahe wäre er verblutet. 1947 flüchtete er vor der rechten Athener Regierung nach Paris, in Abwesenheit wurde er zum Tode verurteilt. Dreißig Jahre später, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, wird seine Musik zum ersten Mal offiziell in Athen dem griechischen Publikum vorgestellt. Früh verlor er seine Heimat, er fand aber Zuflucht in der Welt. Xenakis hat einmal gesagt: »Ich will keine Wurzeln haben.«

 

Seinen Kompositionen gebührt eine Sonderstellung in der Neuen Musik. Obwohl aus der Perspektive eines strengen Forschers erdacht, ist selten das Werk eines Komponisten des 20. Jahrhunderts derart sinnlich fassbar. Der Absolvent einer polytechnischen Schule arbeitete zunächst als Statiker und Ingenieur bei Meisterarchitekt Le Corbusier, kam dann auf dessen Vermittlung zu Olivier Messiaen. Der ermutigte ihn, seine kompositorischen Ambitionen ernst zu nehmen. 1955 schaffte er den Durchbruch mit seiner ersten großen stochastischen Komposition »Metastaseis« bei den Donaueschinger Musiktagen. In diesem Werk sind gleitende, sirenenartige Streicherglissandi zu hören, harte Holzschläge setzen gegen die reißende Bewegung der Streichinstrumente Ankerpunkte, Posaunen und andere Blechbläser bilden einen tieftönenden und dräuenden Grund. Man assoziiert apokalyptische Bienenschwärme, die Uraufführung muss auf die Anwesenden wie ein gerichteter kakophoner Ausnahmezustand gewirkt haben.

 

Xenakis komponierte mithilfe stochastischer Verfahren, auch Wahrscheinlichkeitsrechnung genannt. Er entwickelte aus der mathematischen Untersuchung des Zufalls ein Kompositionsinstrument, das verantwortlich ist für eine infernalische Musik sondergleichen. »Der sinnliche Schock muss ebenso eindringlich werden wie der Schlag des Donners oder der Blick in einen bodenlosen Abgrund«, so formulierte Xenakis seine Erwartung an die Reaktion des Hörers auf seine Musik.

 

Tatsächlich als Soundtrack zu einem ethnographischen Dokumentarfilm geschrieben, ist das Tonbandstück »Orient-Occident« von 1960 ebenfalls ein irrwitziger Trip. Das ist Proto-Industrial, hämmerndes Streichen dicker Stahlseile, klirrendes Metall, als würden die Einstürzenden Neubauten Schrott durch eine Fabrikhalle werfen. Dann mäandert das Stück durch einen elektronischen Dschungel samt verzerrten Fröschen und amorphem Löwengebrüll, bevor es baden geht und ein Sonargerät die Untiefen auslotet. Kein Wunder, dass Xenakis in der Noise- und Industrial-Szene popkulturelles Echo fand, Merzbow und Otomo Yoshihide zählen zu seinen größten Verehrern. Und weil seine Kompositionen häufig Brücken schlagen zwischen archaischen Klängen der griechisch-byzantinischen Welt und der des nahen und fernen Ostens, ist seine Musik seltsam geerdet, ja, vertraut. Der Schock des Zufalls mag tief sitzen, aber der sinnlichen Schönheit seiner Musikmaschinen kann man sich nicht entziehen.