»Der Film wartet nie auf einen«

Disneys Meisterwerk »Fantasia« (1940) kommt mit Orchesterbergleitung in die Philharmonie: Ein Interview mit Dirigent Scott Lawton über die Schwierigkeit des Multitaskings, kleine Freiheiten und Beethovens kitschige Sechste

Sie sind Chefdirigent des Deutschen Filmorchester Babelsberg. Was unterscheidet ein Filmorchester von einem »normalen« Orchester?

 

Die Unterschiede sind in erster Linie geschäftlich, musikalisch sind sie nicht so groß. Die Bandbreite geht ein bisschen mehr in Richtung U-Musik — insbesondere die Blechbläser müssen auch populäre Stile spielen können. Außerdem ist das Filmorchester in einem Studio zuhause und nicht in einem Konzertsaal. Wir bestreiten einen großen Teil unserer Einkünfte mit Aufnahmen.

 

Wie oft werden überhaupt noch Filmscores mit großem Orchester eingespielt?

 

Selbst in Hollywood sind die Zeiten viel härter geworden. Erstens arbeiten viele junge Komponisten nur noch mit dem Computer. Und zweitens engagieren selbst namhafte Komponisten mittlerweile ausländische Orchestern, etwa aus Asien, weil sie merken, dass sie dort preiswert gute Qualität bekommen.

 

Wie bereiten Sie sich auf »Fantasia« vor?

 

Es ist unerlässlich, Partitur und DVD immer wieder durchzugehen. Manchmal begleite ich den Film zuhause selber am Klavier. Man muss in jedem Augenblick wissen, was gleich kommt — von den Bildern her und der Musik. Das ist Multitasking. Besonders bei »Fantasia« ist das Korsett sehr eng.

 

Weil die einzelnen Episoden des Films nach berühmten Kompositionen der klassischen Musik gestaltet wurden, die Musik also zuerst da war und dann der Film?

 

Genau. Es gibt aber ein paar Hilfsmittel. Ich schaue während der Aufführung auf einen Monitor, der direkt neben meinem Notenpult steht, und nicht auf die große Leinwand. Der Unterschied zwischen dem Riesenbild und der kleinen Partitur würde verwirren. Man kann als Orientierung auch einen hörbaren Klick im Kopfhörer benutzen. Mit so einem Klick habe ich letztes Jahr »Fluch der Karibik« dirigiert. Aber ich habe gemerkt, dass das bei »Fantasia« eher behindert, klassische Musik wird ja auch nicht mit einem Klick eingespielt. Mein wichtigstes Hilfsmittel ist ein Balken, der im Monitor von links nach rechts geht. Wenn er rechts ankommt, gibt es einen wichtigen Synchronpunkt. Man weiß, wo man hin muss, aber man kann den Weg dahin ein klein bisschen selbst gestalten. Die Bedürfnisse der Disney-Produzenten werden befriedigt, aber auch mein Bedürfnis als Musiker frei und gelöst zu musizieren.

 

Die kreativen Möglichkeiten sind aber doch sehr begrenzt.

 

In der klassischen Musik ist es häufig so, dass man ein enges Korsett hat. Es gibt bei vielen bekannten Werken tradierte Tempi, die einfach als gut und richtig empfunden werden. Die »Fantasia«-Vorlage ist so wunderschön, dass man sich nicht dagegen sträubt — mit einer Ausnahme. »Der Zauberlehrling« von Paul Dukas wurde ein bisschen zu schnell vom Dirigenten des Films Leopold Stokowski eingespielt. Das ist kaum spielbar. Ich gebe zu, wenn es die bewegten Bilder zum »Zauberlehrling« nicht gäbe, würde ich das Stück so schnell wahrscheinlich nie dirigieren. (lacht)

 

Kommt man da in Versuchung, den Film langsamer abzuspielen?

 

Bei analogen Vorführungen von Stummfilmen kann der Filmvorführer die Geschwindigkeit ändern. Das hat aber seine Grenzen. Wenn man etwa einen Chaplin-Film mit Hilfe einer DVD einstudiert hat, und man kommt zur Generalprobe und der Filmvorführer kann diese Geschwindigkeit gar nicht abspielen, muss man die gesamten anderthalb Stunden anders verinnerlichen. Das ist sehr anstrengend. Es gibt Grenzen, wie langsam ein Film gezeigt werden kann, sonst wird die Temperatur des Projektors zu hoch. »Fantasia« wird aber von Festplatte gebeamt.

 

Als ich das letzte Mal in der Philharmonie eine Filmvorführung mit Livemusik besucht habe, war die Bildqualität der Projektion bescheiden. Wird das dieses Mal besser sein?

 

In diesem Fall wird das bestimmt anders sein. Disney stellt sehr hohe technische Anforderungen an die Philharmonie. Da bleiben keine Wünsche offen.

 

Es werden nicht alle Episoden aus »Fantasia« gezeigt, dafür aber auch Teile der Fortsetzung »Fantasia 2000«. War das die Idee von Disney?

 

Ja, aber ich finde die Auswahl gut. Wie die übereinander geschichteten Farben bei einigen Episoden von »Fantasia« von innen leuchten, das hat etwas Geheimnisvolles, das ist einmalig und bei den neueren Techniken selten der Fall. Ich will »Fantasia 2000« aber nicht schlecht machen. Die Episode zur Musik von »Rhapsody in Blue« ist sehr cool. Ich liebe diese visuelle Sprache.

 

Die aber auch sehr »retro« ist.

 

Komplett. Vorbild war Al Hirschfeld, der für die New York Times jahrzehntelang Karikaturen gezeichnet hat.

 

Die Musik von »Fantasia« könnte man auf eine Best-of-Klassik-CD packen. Provokant gefragt: Langweilt es nicht, diese »Gassenhauer« zu dirigieren?

 

Was? Beethovens Fünfte ist nie langweilig! (lacht) Natürlich füge ich nichts zur Rezeptionsgeschichte hinzu. Ich versuche einfach nur das Orchester so zusammenzuhalten, dass wir synchron mit dem Bild sind. Das sind reine handwerkliche Ziele, aber ich glaube, das reicht. Man hat wirklich alle Hände voll zu tun, der Film wartet nie auf einen, wenn man dirigiert. Und das Orchester hat das Recht darauf, toll geleitet zu werden. Film zu dirigieren gehört zu den härtesten handwerklichen Schulen, die ich mir vorstellen kann. »Fantasia«wurde von so guten Leuten aus allen möglichen Sparten gestaltet, da fühle ich mich geehrt, dass ich mitmachen darf. Der Film ist auch stilistisch sehr schwer zu orten, wo passt er in der Kulturgeschichte überhaupt rein?

 

Eine einzigartige Mischung aus Kunst und Kitsch.

 

Live ist aber die Wirkung der Orchesterklänge und Bilder so stark, dass meiner Meinung nach selbst bei Menschen mit einer starken Kitschabwehr, diese außer Kraft gesetzt wird. Beethovens Sechste ist sehr kitschig, aber es ist dennoch wunderschön, sie zu erleben. (lacht)