Der falsche Mann

Wider vorschnelle Verurteilungen: Die Jagd von Thomas Vinterberg

Mit seiner filmischen Familienaufstellung »Das Fest« schrieb der dänische Regisseur Thomas Vinterberg 1998 Kinogeschichte. Danach waren die Erwartungen hoch. Seine internationalen Produktionen »It’s All About Love« (2003) und »Dear Wendy« (2004) loteten allerdings die Fallhöhe voll nach unten aus. Mit »Die Jagd« kehrt er nun zu alter Form zurück — und auch zu einem vertrauten thematischen Umfeld. War in »Das Fest« die Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs in der Familie die treibende dramatische Kraft, geht Vinterberg in »Die Jagd« das Thema von einer anderen Seite an.

 

In einer kleinen dänischen Gemeinde arbeitet Lucas in einem Kindergarten als Erzieher. Die Kinder mögen den Mann, mit dem man auch einmal ordentlich he­rumtoben kann. Vor allem die kleine Klara, Tochter von Lucas’ Jugendfreund Theo, sucht immer wieder Trost bei ihm, wenn ihre Eltern sich streiten. Als sie dem Erzieher ein Herz aus Stoff schenken will und ihn auf den Mund küsst, weist Lucas sie freundlich, aber bestimmt zurück. Das Mädchen ist gekränkt und weil tags zuvor der ältere Bruder ihr ein Pornobild aus dem Internet vor die Nase gehalten hat, mischen sich die widersprüchlichen Gefühle in ihrem Herzen zu einer gefährlichen Lüge: Klara erzählt der Leiterin des Kindergartens, Lucas habe ihr das Herz geschenkt — und seinen Penis gezeigt. Je monströser ein Verdacht, desto schneller wird er zur Gewissheit. Und dies ist ein Vorwurf, von dem man sich nie wieder vollständig reinwaschen kann.

 

»Die Jagd« beschreibt die Dynamik, die ein Missbrauchsverdacht innerhalb eines engen sozialen Kosmos’ auslöst. Vinterberg zeigt, dass elterliche Schutzin­stinkte eine verheerende Kraft in sich tragen und Empörung blind für Zusammenhänge machen kann, die differenziert betrachtet werden müssen.

 

Doch werden die Dorfbewohner keineswegs als lynchwütiger Mob dargestellt. Thomas Bo Larsen in der Rolle von Klaras Vater Theo spielt die widersprüchlichen Emotionen seiner Figur derart kraftvoll aus, dass man förmlich sieht, wie es die Seele des Mannes zerreißt.

 

Seine Intensität bezieht »Die Jagd« aus der bedingungslosen Konzentration auf die Figuren. Vinterberg findet zu seiner präzisen und kraftvollen Erzählweise zurück und entwirft einen ebenso provokanten wie notwendigen Film, der der Missbrauchsdebatte eine andere Perspektive abringt.

 

Die Jagd (Jagten) DK 2012, R: Thomas Vinterberg, D: Mads Mikkelsen, Annika Wedderkopp, Thomas Bo Larsen, 120 Min.