Lust am Leben

Coming-of-Age-Drama: Ginger & Rosa von Sally Potter

London 1962: Ginger und Rosa sind beste Freundinnen seit früher Kindheit. Gingers Vater Roland ist ein linker Intellektueller und Hochschullehrer, der höchsten Wert auf geistige Unabhängigkeit legt. Mutter Natalie hat für Mann und Kind die Malerei an den Nagel gehängt, darbt nun als Hausfrau und muss Roland mit seinen Studentinnen teilen.

 

Ginger eifert lieber dem schillernden Vater nach als der frus­trierten Mutter, demonstriert während der Kuba­krise gegen die Atombombe und schließt sich einer linken Protestbewegung an. Sie schleift Rosa mit zu den Treffen, obwohl die nur Ausschau nach der großen Liebe hält. Dennoch kann die Mädchen nichts trennen, bis Roland vor Gingers Augen eine Affäre mit Rosa beginnt und in seiner Tochter ein Gefühlschaos mit ungeahnten Folgen auslöst.

 

Sally Potter beschreibt sehr genau die Strömungen der Zeit, in der die sexuelle Revolution in den Kinderschuhen steckte und die Gegner der atomaren Aufrüstung mit Sitzstreiks vor dem britischen Parlament protestierten. Ihr ist ein vielschichtiges Drama über das Erwachsenwerden in Umbruchzeiten gelungen. Es wirft die Frage auf, wie Jugendliche mit seelischen Verletzungen umgehen und sich orientieren, wenn traditionelle Familienstrukturen zerbrechen, alte Rollenmodelle nicht mehr greifen und neue nicht in Sicht sind.

 

Die Kamera liest dabei den Figuren oft in Nah- oder Detailaufnahmen jede Regung von Augen und Gesichtern ab. Vor allem Elle Fannings Gesicht spricht Bände. Die junge Darstellerin, zur Zeit der Dreharbeiten 13 Jahre alt, spielt die problembeladene 17-jährige Ginger mit viel Verve. Der Film wird zum größten Teil aus ihrer Perspektive erzählt. Die satten, intensiven Farben und sprechenden Bilder charakterisieren die Figur: Wenn sie sich mit ihren orange-roten Haaren auf den verschneiten Rasen sinken lässt und die Finger in die braune Erde krallt, verweist das auf ihre Aufgewühltheit und ihre Lust am Leben. Freiheitsliebe und Aufbruchstimmung platzen heraus, wenn Ginger in Rolands offenem Cabrio die Haare fliegen lässt oder sich auf seinem durch die Wellen schnellenden Boot in den Wind legt. Doch meist bewegt sie sich mit Rosa in der Enge und Be­­schränktheit kleiner Wohnungen, grauer Hinterhöfe und schmaler Gassen. Demgegenüber gestellt werden lichte und weite Momente am Strand, wenn die Mädchen sich ihr ideales Leben ausmalen, bevor sie schmerzhaft vom echten eingeholt werden.

 

Ginger & Rosa (dto) GB/DK/CAN/CRO 2012, R: Sally Potter, D: Elle Fanning, Alice Englert, Christian Hendricks, 90 Min.