Räderwerk des Stolperns

Der New Yorker Allround-Avantgardist John Zorn

feiert auf dem Moers Festival seinen 60.

Vor gut 35 Jahren kam es zu einer denkwürdigen Zusammenkunft, die das Feld der Improvisierten Musik neu bestellte und zugleich Türen aufmachte, von denen man gar nicht wusste, dass es sie gibt. Geschweige denn, wo hin sie sich öffnen würden: Schon mal auf engstem Raum gleichzeitig zu Free Jazz, Grindcore und Giallo-Soundtrack getanzt? 

 

Im Herbst des Jahres 1978 bekam der englische Avant-Gitarrist Fred Frith einen Anruf aus New York. Am anderen Ende meldete sich der georgische Produzent und Protegé der Eurock-Szene Giorgio Gomelsky: »Fred, du musst unbedingt kommen. Du wirst begeistert sein von dem, was hier gerade passiert!« Das Flugticket sei schon bezahlt, er müsse sich nur ins Flugzeug setzen. Da hätte er wohl nun nicht mehr Nein sagen können — und er blieb dann gleich für vierzehn Jahre —, erzählt mir Frith vor drei Jahren kurz nach seinem Auftritt auf dem Moerser Jazzfestival (Frith tritt auch aktuell auf dem Festival auf: im Duo mit der Percussionistin Evelyn Glennie am 19.5.).

 

Gomelsky organisierte in einem New Yorker Loft ein Festival, zudem er die noch junge No-Wave-Szene und bereits etablierte Prog- und Jazz-Rock-Musiker aus Europa einlud. Unter anderem kamen Daevid Allen und Fred Frith und spielten mit dem jungen Bill Laswell Stücke von Gong, Slapp Happy und Henry Cow. Von Punk infizierte New Yorker Minimal-Komponisten wie Rhys Chatham und Glenn Branca waren mit von der Partie, irgendwann während einem Auftritt von Allen und siebzig Musikern drehte die Polizei den Saft ab — man spielte einfach im Dunkeln weiter. Wo die Sicherungen bereits rausgedreht sind, spielt es sich besonders ungehemmt. Ob John Zorn auch dabei war, ist nicht überliefert. Er hätte gefehlt, immerhin gilt er heute als der Kopf der aus die--sem Festival sich herausschälenden Szene.

 

Zorn entwickelte Mitte der 70er Jahre, beeinflusst von Mauricio Kagel und Karlheinz Stockhausen, eine Kompositionsmethode, die auf der Spieltheorie basiert — fortan experimentierte er in der Grauzone -zwischen Komposition und Impro-vi-sa-tion. Später entwickelte er das Prinzip des schnellen Wechsels, oder besser: der schnellen Schnitte, angelehnt an Jean-Luc Godards Jump-cuts. Seine Begeisterung für den Komponisten Carl Stalling, der TV-Cartoon-Klassiker vertonte, lässt Zorns Herangehensweise vielleicht am deutlichsten hervortreten: die von ihm bevorzugte Sprache ist die des Slapsticks. Dem französischen Philosophen Henri Bergson zufolge speist sich Komik aus dem Moment, in dem »etwas Lebendiges von einem Mechanismus überdeckt wird« — Slapstick wäre demnach das Stolpern der Mechanik. Zorn bringt die Gesten der Genre-Musik zum Stolpern, die rasanten Wechsel unterlaufen und erwecken Erwartungen gleichermaßen.

 

Diesen (aber bei weitem nicht nur diesen!) Prinzipien folgend ist sein immenser Output auf inzwischen über 400 Veröffentlichungen gewachsen. Bei der schieren Größe muss man fragen: Wer kennt eigentlich das Werk John Zorns?! Wahrscheinlich ist: Niemand auf diesem verdammten Planeten kennt es in seiner Gänze. Oder anders: Zorn stellt das Werk an sich in Frage. So wie er die Rolle und Aufgabe von Komponist und Interpret, von Improvisation und Notation in Frage stellt. Mit Frith gründete Zorn dann Ende der 80er Jahre seine wohl bekannteste und breitenwirksamste Formation, die gleichsam der Türöffner zur experimentellen Musik für eine ganze Generation von Metal- und Hardcore-Fans werden sollte: Naked City. Und der ein oder andere Jazzer hörte plötzlich Agnostic Front und Napalm Death. Im beschaulichen Moers ist also wieder einmal Familientreffen angesagt.