Die Kamera als sterbender Fisch

Wider den anthropozentrischen Blick: »Leviathan und Bestiaire« lassen mit spektakulären Bildern das Tier im Kino zu seinem Recht kommen

Wenn Menschen Tiere filmen, gibt es immer ein grundsätzliches moralisches Problem: Das Tier kann nicht zurückfilmen. Der Mensch kann aufs Tier projizieren, was er will. Er kann Pferde sprechen lassen und Affen niedliche Kleidchen anziehen, er kann Wölfe dämonisieren und Haushunde idealisieren. Der Gegenschuss jedoch, der Blick des Tiers auf den Menschen, bleibt unmöglich, außer in ironischen, fiktionalen Anordnungen. Die schönste findet sich vermutlich in Buster Keatons »The Cameraman« (1928), der nur zum Happy End gelangt, weil im entscheidenden Moment ein Affe anstelle des Menschen weiterfilmt. Zwei sehr unterschiedliche Filme machen es sich zur Aufgabe, Keatons Vorlage aufzunehmen und unternehmen ihrerseits Versuche, das Tier im Kino zu seinem Recht kommen zu lassen.

 

»Leviathan«, der spektakulärere der beiden Filme, ist dabei nicht einmal mehr im weiteren Sinne ein Tierfilm. Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel, die beiden Regisseure, sind gelernte Ethnologen. Castaing-Taylor ist Professor am einflussreichen »Sensory Ethnography Lab« der Harvard University, das in den letzten Jahren eine ganze Reihe aufregender dokumentarischer Filmarbeiten produziert hat. An der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Videokunst soll hier gerade kein trocken-akademisches Theoriekino entstehen, sondern ein Filmschaffen, das auf unmittelbare emotionale Wirkung angelegt ist und mit voller Wucht auf die Netzhaut prallt. »Leviathan« ist der bisher größte (hauptsächlich: Festival-)Erfolg dieses ungewöhnlichen Produktonszusammenhangs. Ungeheuer agile, regelrecht entfesselte Kameras werden auf hoher See auf ein Fischerboot losgelassen. Der Kampf der bulligen Seeleute mit den Elementen und der ölverschmierten Takelage löst sich auf in eine disparate Folge sinnlicher Schocks. Was auch immer man aus diesem außergewöhnlichen Kinoerlebnis mitnimmt, gut durchgeschüttelt ist man am Ende auf jeden Fall.

 

»Leviathan« ist ein Film gegen den Anthropozentrismus, ein Film, der den Kamerablick von den menschlichen Sinnesorganen loslöst, der Bilder sucht und findet, die kein Menschenauge je gesehen hat. In einer Schlüsselszene mischt sich die Kamera unter die toten oder sterbenden, hilflos ihre Kiemen aufreißenden Fische. Es geht freilich nicht darum, den Fang zu begutachten, im Gegenteil, die Kamera wird für ein paar Minuten regelrecht selbst zum sterbenden Fisch, schmiegt sich eng an die glitschige Haut der Meerestiere, wird durchgeschüttelt von den Wellenbewegungen, verliert jegliches Raum- und Zeitgefühl, lässt sich ein auf eine zentrumslose, durchaus beängstigende Subjektivität, die nichts Menschliches mehr an sich hat.

 

Ganz anders und auf den ersten Blick weit weniger radikal: »Bestiaire«, ein Dokumentarfilm des frankokanadischen Regisseurs Denis Côté, der zwar ebenfalls mit Regeln des Genres bricht — und vor allem komplett auf Voice-Over-Kommentare verzichtet —, der aber ganz unbedingt auf Abstand bleibt. Genau um den Abstand, um die unüberbrückbare Differenz zwischen Mensch und Tier geht es dem Film zuvorderst, auch um die zum Scheitern verurteilten Versuche, dem Tier mit einem Bild, mithilfe einer Kamera habhaft zu werden. »Zum Tier werden«: Genau das kann nicht funktionieren, weiß Denis Côtés kluger Film, in dem die Tiere umso freier und unbezähmbarer wirken, je mehr der Mensch sie zurichtet und einsperrt, je aufdringlicher er sie anglotzt.

 

Entstanden ist der Film hauptsächlich in einem kanadischen Tierpark. Die ruhigen, langen Einstellungen greifen das »zoologische Dispositiv« auf, das Tiere zum attraktiven Blickobjekt des Menschen degradiert und ihnen den Eigensinn austreibt, aber nur, um es ganz langsam und hinterrücks zu dekonstruieren, kleine Spitzen zu setzen gegen die Vermenschlichung, die der Blick ins Tiergesicht fast zwangsläufig nach sich zieht. Mal ist nur ein Bildausschnitt etwas schief gewählt, sodass nicht das ganze Tier darin Platz findet, sondern nur ein hilfloser, kleiner Kopf mit einem sich reckenden Hals, mal sind die Tiere selbst versehrt, auf durchaus bizarre Art: Ein Springbock, dem ein Horn abhanden gekommen ist, verwandelt sich in Côtés filmischer Bearbeitung in ein geheimnisvolles, leidendes Fabeltier. »Bestiarien« wurden im Mittelalter Tierdichtungen genannt, die die Geschöpfe mit Vorliebe in allegorisch-religiöse Gleichnisse einbauten. Côté arbeitet zwar an einer Fiktionalisierung des Tieres, aber an einer, die das Tier dem Menschen nicht näherbringt, sondern es im Gegenteil von ihm entfremdet, ihm das Geheimnisvolle zurückgibt, das ihm in gut ausgeleuchteten Zoos abhandenzukommen droht.

 

Wer an all diesen Spreizungen kein Interesse und trotzdem ein Herz für den Tierfilm hat, dem sei ein ganz anderer Film empfohlen, der ebenfalls im Mai in deutschen Kinos startet: »Schimpansen«, ein »Disneynature«-Dokumentarfilm von Alastair Fothergill und Mark Linfield über einen jungen Menschenaffen im Dschungel Tansanias, der — nachdem seine Gruppe von einem verfeindeten Clan ausgelöscht wurde — sich einem alten Alpha-Männchen anschließt. Hier fallen Tierisches und Menschliches komplett in Eins, die Affenwelt wird vom Erzähler (im Original: Tim Allen) durchpsychologisiert und als dramaturgisch perfekt geformte Erzählung verfügbar gemacht. Und doch ist auch das ein schöner Film, weil er im Kern nicht auf Effekthascherei setzt, sondern auf genaue, geduldige Beobachtungen. Weil er den Affen zwar nicht ihre Fremdheit, aber doch ihre Würde lässt.