»Jeder dachte, der Mai 1968 ist nur die Generalprobe«

Erwachsen werden in den revolutionären 70ern: Olivier Assayas über seinen autobiografisch inspirierten Film »Die wilde Zeit«, heutigen Hipster-Radikalismus und ein schwedisches Vorbild

Ihr Film »Die wilde Zeit« über die revolutionär bewegte Jugend nach 1968 ist aus ihrem autobiografischen Buch »A Post May Adolescence« entstanden. Stimmen Sie zu, dass er politisch reflektierter ist als die Vorlage? Ja. »Die wilde Zeit« sollte ursprünglich ein Dreistunden-Epos werden, aber beim Schrei­ben habe ich alles wieder kondensiert, mehr und mehr Dialoge entfernt, bis, wie in meinem Film »Carlos«, nur noch die nötige Information übrig blieb, ohne psychologische Erklärung oder Kommentar. Ich war am Ende überrascht, wie kurz das Skript war. Erst als ich den Film vorbereitete, begann das Projekt wieder zu wachsen: Es ging um die Texturen, die Beziehung zwischen Stadt und Natur, es galt die Energie und Poesie szenenweise einzufangen. Eigentlich ist es ein Film über einen jungen Mann, der anfangs Künstler werden will und letztlich versteht, dass Filme vom wirklichen Leben handeln können. Das hat aber nur Bedeutung, wenn man es in ein breiteres Zeitporträt einfügt. Also musste ich die verschiedenen Bewegungen richtig zeichnen, und die Stimmungen von Gilles, dem Protagonisten.

 


Sie schlagen im Film einen ernsthaften Ton in Bezug auf diese jungen Menschen und ihre Ideale an — in Opposition zur Ironie, mit der die Ära heute hauptsächlich behandelt wird? Ja, die 70er Jahre und ihre Leidenschaften, die Ernsthaftigkeit des Engagements werden heute karikiert. Damals fühlten sich die Leute dafür verantwortlich, wie sie ihre Ideen lebten. Es genügte nicht zu sagen »Ich bin radikal« oder »Ich glaube an das oder das«, es musste auch in die Praxis umgesetzt werden. Natürlich war das durch eine bestimmte Weltsicht geprägt: Jeder dachte, der Mai 1968 ist nur die Generalprobe und die Revolution steht unmittelbar bevor. Die »alte« Welt war repressiv und hasste uns. Es gab diesen Generationenkonflikt, weil sich die Struktur der Gesellschaft seit den 50ern nicht geändert hatte. Vielleicht hatten die Auseinandersetzungen um den Algerienkrieg die Entwicklung eingefroren. Für die Jugend war zu dieser Welt kein Bezug möglich, sie musste sich also gar nicht bemühen, sich davon loszusagen. Ein sicherer Job, eine Karriere — das interessierte keinen, man war willens, Experimente zu wagen mit seinem Leben. Ich denke, dass man sich heute darüber lustig macht, weil man Angst vor so einem tiefgreifenden Engagement hat. Eine Landkommune mit Ziegen — klar kann man darüber lachen, aber was sind die Alternativen? Das war doch die Umsetzung von gewissen anarchistischen Idealen in Taten. Heute sind die Leute damit zufrieden, zu behaupten, sie seien radikal. Ich nenne das Mehrwert-Radikalismus: ein Faktor wie Coolness oder Hipness, der nicht bewiesen werden muss.

 


Wie war die politische Situation in Frankreichs Kino? Den Pariser Unruhen vom Mai 1968 waren Demonstrationen gegen die Entlassung von Henri Langlois als Direktor der Cinemathèque française vorausgegangen. Das war eine bedeutsame Entwicklung, die man noch einmal genauer analysieren müsste. Der Umbruch hatte irgendwie Wurzeln im Kino. Es war so, als hätte die Revolution schon stattgefunden — zehn Jahre vorher. Im Film wurde die Bewegung zur Moderne eingeleitet ebenso wie in der Literatur mit dem Noveau Roman. Erst dann schlug es sich gesellschaftlich nieder. Dabei muss man auch bedenken, dass das Mainstreamkino in dieser Zeit politisch stark links orientiert war, mit Leuten wie Bertrand Tavernier, Yves Boisset oder Costa-Gavras. Auch viele Trotzkisten waren darunter, etwa Pierre-William Glenn und Alain Corneau. Es war auch eine Zeit der Verwirrung: Die »revolutionären« Regisseure der Nouvelle Vague waren politisch ja recht unterschiedlich eingestellt. Kommunisten unter den Filmemachern wie in Italien gab es kaum, nur ein paar Randfiguren wie Bernard Paul oder René Gilson. Für meine Generation am wichtigsten waren aber eigentlich US-Independentfilme: »The Strawberry Statement«, »Electra Glide in Blue«, »Medium Cool«, »Vanishing Point«, ein Regisseur wie Bob Rafelson — die ganze Post-»Easy Rider«-Bewegung.

 


Sie verwenden Ausschnitte aus dem Film »Joe Hill« (1971) des Schweden Bo Widerberg über den gleichnamigen US-Arbeiterführer und Märtyrer. Bo Widerberg ist ein vergessenes Genie. Lars von Trier hat zugegeben, dass »Dancer In The Dark« auf seinen Erinnerungen an »Joe Hill« basiert: die Züge, die Hobos, die Hinrichtung und so weiter. Ich habe den Film als Teenager gesehen, er ist mir wirklich im Gedächtnis geblieben — und vor ein paar Jahren habe ich Widerberg wiederentdeckt und fühlte mich bestätigt. Der Film passt auch zur Geschichte der 70er, die ich erzähle: Widerberg ist ein Regisseur, der wirklich versucht hat, dem Zeitenwandel gerecht zu werden. Seine Werke sind politisch, aber sie haben auch eine große Schönheit, eine sinnliche Qualität nahe am Impressionismus. Sehr großzügig und lyrisch und gar nicht dogmatisch wie viel linkes Kino damals. Ich mache selten Hommagen in meinen Filmen, aber das ist eine.