»Die Gesetze der Schwerkraft sollten nicht aufgehoben werden«

Als Kampfkunst noch gefährlich war: Wong Kar-Wai über seinen Film "The Grandmaster", Kung Fu in China und seine Vorliebe für starke Frauen

»The Grandmaster« ist Ihr erster Kampfkunst-Genrefilm. Schlagen Sie damit ein neues Kapitel in Ihrer Laufbahn auf?

 

Ich war zwar schon immer ein großer Martial-Arts-Fan, aber ich kannte mich in dem Metier kaum aus. Ich musste ganz von vorn anfangen, um diese Welt zu verstehen. Fast alle meine Filme waren bisher in der Gegenwart oder im Hongkong der 60er Jahre angesiedelt. Ursprünglich sollte auch dieser Film in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg spielen, als viele Martial-Arts-Meister nach Hongkong emi­grierten. Aber dann haben wir gemerkt, dass die Geschichte nur Sinn macht, wenn man auch von der Blütezeit der Kampfkunstbewegung erzählt, und so landeten wir im China der 30er Jahre. Es war schwierig, aber auch aufregend diese Ära zu rekonstruieren. Das hat mir als Filmemacher viele neue Impulse gegeben.

 

Gehen Sie mit »The Grandmaster« zurück zu den kreativen Wurzeln des Hongkong-Kinos?

 

In dem Film geht es nicht nur um die Entwicklung des Kung Fu als Kampfsport. »The Grandmaster« verbeugt sich auch mit zahlreichen Referenzen vor dem Genre des Kung-Fu-Films, wie etwa vor den legendären Werken der Gebrüder Shaw.

 

Die Arbeit an Ihrem Film hat fast drei Jahre in Anspruch genommen.

 

Das ist für meine Art zu arbeiten nichts Außergewöhnliches. In meinen früheren Produktionen kam die lange Drehzeit meistens dadurch zustande, dass die Schauspieler nicht durchgehend verfügbar waren und wir größere Drehpausen einlegen mussten. Aber bei dieser Produktion haben wir drei Jahre wirklich durchgearbeitet. Teile des Films sind im Nordosten Chinas gedreht, wo es im Winter sehr kalt werden kann. Im Süden haben wir die historischen Sets aufgebaut. Ich wollte so wenig Computereffekte wie möglich verwenden. Außerdem mussten die Schauspieler lange trainieren, um das grundlegende Handwerkszeug des Kung Fu zu erlernen. Tony Leung hat sich während der Dreharbeiten zweimal den Arm gebrochen und fiel für mehrere Wochen aus. Das alles kostete Zeit.

 

Warum haben Sie weitgehend auf digitale Effekte verzichtet?

 

Mir war es wichtig, dass der Film ehrlich und respektvoll mit der Kampfkunst umgeht. Es sollte keine digitalen Tricks geben oder die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben werden. Jede Bewegung musste sich an den Richtlinien der jeweiligen Kung-Fu-Schule orientieren. Auf digitale Bildbearbeitungen haben wir nur zurückgegriffen, wenn es für die Schauspieler zu gefährlich wurde.

 

Welche Bedeutung hat die Kampfkunst im heutigen China?

 

Heute werden die Martial Arts vor allem als Leistungsport betrieben. Es geht um Wettkämpfe, Preise und Medaillen. Aber die traditionelle Kampfkunst ist eine Waffe zur Verteidigung — und zum Töten. Dazu gehören feste Rituale, ein sehr strenger Ehrenkodex und eine bestimmte Philosophie. Heute wird der eigentliche Geist der Kampfkunst vernachlässigt, und deshalb ist dieser Film, der auf die ursprünglichen Traditionen verweist, für mich so wichtig. In der Vorbereitung habe ich nicht in den Kampfkunstakademien nachgeforscht, sondern bin aufs Land gefahren und habe dort viele ­Martial-Arts-Meister besucht. Die meisten waren über siebzig Jahre alt und auch ihre Schüler waren selten jünger als fünfzig. Einer der Meister hat sein Leben lang für die Eisenbahngesellschaft gearbeitet und steht heute als Rentner jeden Tag um fünf Uhr morgens auf, um mit seinen Schülern zwei Stunden zu trainieren. Sie begreifen die Kampfkunst — und das ist eine sehr chinesische Denkweise — als Erbe, das sie an die nächste Generation weitergeben müssen, um das Feuer in Gang zu halten.

 

Im China der 30er Jahre war Kung Fu eine männerdominierte Welt. Warum lassen Sie diese Sphäre durch die weibliche Figur der Gong Er aufmischen?

 

Ich mag Frauen mit Energie. In all meinen Filmen habe ich starke Frauencharaktere bevorzugt. Auch wenn sie keine Martial-Arts-Heldinnen waren, haben sie immer ihren eigenen Standpunkt vertreten und für ihre Ansichten gekämpft. In diesem Film kommt die selbstbewusste Frauenfigur sehr viel stärker zur Geltung, weil Frauen damals in der Martial-Arts-Welt nicht viel zu sagen hatten. Gong Er muss um ihre Anerkennung kämpfen, zu ihren Prinzipien stehen, ihre eigene und die Ehre ihrer Familie verteidigen.

 

Findet sich in der Beziehung zwischen Gong Er und ihrer Hauptfigur Ip Man das Motiv der unerfüllten Liebe wieder, das man aus einigen Ihrer Filme kennt?

 

Die Zuneigung, die die beiden füreinander empfinden, hat eigentlich nicht so viel mit Romantik zu tun. Hier geht es eher um gegenseitige Bewunderung und die Erfahrungen, die die beiden miteinander teilen — und das ist mehr wert als Liebe. Ich würde mir wünschen, dass das Publikum diesen Film frei von meinen vorherigen Werken betrachtet. Es ist viel interessanter, sich den Film mit offenem Herzen anzuschauen, als nach Spuren meiner früheren Filme zu suchen.

 

Betreiben Sie selbst Kampfsport?

 

Nein, deshalb muss ich solche Filme machen, so wie Hitchcock, der sich auch nur mit seinen Filmen an all die schönen Frauen heranwagte.

 

Wong Kar-Wai
Wong wurde 1956 in Shanghai geboren, lebt aber seit seiner Kindheit in Hongkong. Nach seiner Schulzeit studierte er Grafikdesign am Hong Kong Polytechnic College. Danach arbeitete er zwei Jahre als Produktionsassistent beim Fernsehen. Von 1982 bis 1987 arbeitete er als Drehbuchautor. 1988 kam sein erster Spielfilm »As Tears Go By« in die Kinos. Seitdem wurde er international vielfach ausgezeichnet, sein Meisterwerk »In the Mood for Love« ist der einzige Film aus den letzten 30 Jahren, der es in der Liste der 50 besten Filmen aller Zeiten der Zeitschrift Sight & Sound unter die ­ersten 25 geschafft hat.