Wohlstand ohne Hesiod und Schweinehälften

Ein Gedankenexperiment hat gegenüber anderen Experimenten Vorteile. Weder wird süßen Tier­babys etwas angetan noch erhebt sich plötzlich ein Frankenstein und marschiert schlecht gelaunt durch die Hauswand Richtung Innenstadt. Dennoch ist ein Gedankenexperiment nichts für Sensibelchen. Sind Sie ein Sensibelchen?

 

Ich frage, weil es viele, vielleicht zu viele, Sensibelchen gibt. Sie sammeln sich bevorzugt in der sogenannten kulturellen Landschaft. Das ist der Landstrich, der mit Kunst und Kreativität geradezu  überwuchert ist. Seine Bewohner machen tagein, tagaus »neue Projekte« und ärgern sich über fehlenden Zuspruch für ihre, zum Beispiel, »radikalen Theater-Dekonstruktionen« (Kohlhaas als Crack-Domina im Banker-Milieu). Es sind solche »Kulturschaffenden« und »Kreativen«, die jene erstaunliche Behauptung popularisiert haben, es könne gar nicht genug Kunst und Kultur geben.

 

Ich meine, in dieser Welt mangelt es an Liebe, Aufrichtigkeit und genug zu essen. Kunst und Kultur aber gibt es doch reichlich. Niemand darbt, weil noch Fotokunst-Galerien, Minimal-Techno-Maxis oder Schweinehälften mit aufgestecktem Kruzifix fehlten. Jetzt das Gedankenexperiment: Man stelle den kompletten schöngeistigen Fundus, der sich in den vergangenen zehntausend Jahren angesammelt hat, in eine Reihe und beginne alsdann, das jeweils fünfte Stück auszumustern. (Bitte nicht so laut schreien! Es ist ein Gedankenexperiment!) Angenommen es träfe Hesiods »Werke und Tage«, den Isenheimer Altar, das »Bildnis einer jungen Frau« von Petrus Christus, Shakespeares ­»Richard II.«, Miles Davis’ »Miles Ahead« und noch zwei Pfund Gedichte von Durs Grünbein (Gedankenexperiment! Nicht vergessen, liebe Grünbein-Extremisten!) — dann blieben immer noch achtzig Prozent Kultur übrig, und niemand litte unter dem Verlust. Ein solches Phänomen nennt man Wohlstand, kulturellen Wohlstand. Bachs Markus-Passion gilt als verschollen — wie traurig macht Sie das wirklich?

 

Die unbedingte Hochachtung für Kunst und Kultur ist ein Reflex. Jeder Spießer schwört auf Mozart, Picasso, David Lynch. Selbst unter Spießern ist das Ansehen von Künstlern höher als das von Dachdeckern, Apothekern und Kfz-Mechatronikern. Dabei ist Künstler noch nicht mal ein Ausbildungsberuf. Jeder kann sich so nennen. Es ist wie bei »Journalist«, »Internet-Experte« oder »Frauenschwarm«. Und wie diese nehmen sich Künstler immer ein bisschen zu wichtig. Welcher Maler bekennt schon: »Auf Installateur oder Systemadminis­trator hatte ich keinen Bock, aber Malen machte mir schon immer Spaß.« Stattdessen reden sie von »Interventionen«, »Positionen« und »Subversion«. Für einen Berufsstand, der für gedankliche Unverfrorenheit bewundert und bezahlt wird, finde ich das enttäuschend.

 

Dennoch werden zu gesell­schaft­lichen Debatten ständig Regisseure, Popmusiker und Schriftsteller befragt. Man erwartet sich vom Künstler eine besonders pfiffige Betrachtung, ganz gleich, ob zu Präimplantationsdiagnostik oder Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Aber diese Stellungnahmen sind nie tiefgründiger als die von jeman­dem, der bloß die Tagespresse referiert. Der Unterschied ist lediglich, dass Künstler starke Gefühle mit starken Argumenten verwechseln. Was Politiker sagen, ist langweilig, aber nie uninformiert. Bei Künstlern verhält es sich umgekehrt.

 

Mich interessiert es, wenn ein Maler etwas über Malerei erzählt. Dass er auch über Wirtschafts­politik Fundiertes zu berichten wüsste, ist nicht wahrscheinlicher als bei einem Dachdecker oder Kfz-Mechatroniker. Berufsgruppen übrigens, die bislang nicht den Anspruch erheben, jenseits ihrer Profession als Experten gehandelt zu werden oder fordern, dass man ihnen mehr Applaus oder Geld spende.