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Das Kölner Label Blinker wirft unverdrossen ungewöhnliche Veröffentlichungen auf den Markt

Die Schlagzeile, dass die Musikindustrie vor die Hunde geht, lockt sogar selbige nicht mehr hinter dem Ofen hervor. Zu Recht. Die Verlierer sind doch im Wesentlichen geldgeile Säcke, die dem Publikum immer schon Mediokres als Gold verkaufen wollten. Die Kölner EMI wurde letztes Jahr von Universal geschluckt, der entschlackte Personalstand zog nach Berlin. Soll sie doch ziehen, die alte Tante, mag man sich gedacht haben, das wird den Dom nicht schwanken machen. Die Lücke, die EMI hinterlässt, ist gar keine.

 

Während Branchenriesen in der Medienhauptstadt dicht machen und es weiterhin aus dem Industriegebälk rieselt, sprießen kleine Labels aus dem Boden. Dabei geht es eben meist weniger um wirtschaftliche Rentabilität und kommerziellen Erfolg als um Leidenschaft und Selbstverwirklichung. Das in Köln-Mülheim beheimatete Label Blinker formuliert bereits mit dem Beinamen »Marke für Rezentes« eine Ausrichtung, die neugierige Fragen aufwirft: Marke? Rezentes? Bei Marke denkt man eher an Mercedes Benz und »rezent« kennt man allenfalls von der Käsetheke. Aber eine Marke ist letztlich keiner Produktart verpflichtet sondern der Corporate Identity, und rezent bedeutet nicht nur pikant (s. Käse) sondern auch (vgl. das englische recently) frisch, gegenwärtig oder jüngst vergangen.

 

Soweit folgt Blinker also den Spielregeln des Marktes. Mehr aber auch nicht. Denn mit der gerade erschienenen zweiten Veröffentlichung wird klar, dass »frisch« wenig massenkompatibel und auch schon mal hundert Jahre alt sein kann. Anton Weberns »Sechs Bagatellen für Streichquartett« entstanden zwischen 1911 und 1913, aber derart unverbraucht wirken die sechs kurzen Stücke, dass man sich verdutzt Augen und Ohren reibt. Dieser suprematistisch verdichtete Expressionismus hat ziemlich gut 12-Ton-Technik und Serialität überdauert und könnte ebenso von einem Zeitgenossen stammen. Die Einspielung durch das international besetzte Asasello-Quartett ist zudem in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Die Aufnahme basiert auf analogen Live-Einspielungen, und das Quartett spielte nicht vom Blatt, sondern aus dem Kopf. Der Sound ist direkt, druckvoll. Konsequenterweise gibt es die Einspielung nur auf Vinyl. Auf der Rückseite hat der Berliner Field-Recording-Künstler Paul Paulun eine Art »Sound of its own Making«-Arbeit gepackt, die in schönster Postmoderne-Manier (und durchaus humorvoll!) vorführt, wie so eine Aufnahme samt Abmischung denn eigentlich funktioniert. Das hört sich wirklich rezent an. Das große Publikum wird sich nicht zu Huldigungen beim Amazon-Rating einfinden, so viel ist klar. Aber das will ja auch keiner (Blinker wird im Übrigen über den Kölner Laden a-Musik vertrieben).

 

Labelmacher Manuel Schwiertz erzählt, dass er irgendwann keine Lust mehr gehabt habe, nur Konsument zu sein. Er wollte die Musik, die ihn interessiert, selbst produzieren. Als Musikwissenschaftler mit Ellbogentattoo und umtriebiger Konzert-Veranstalter, u.a. im Rahmen von ON-Neue Musik Köln, ist er viel in der hiesigen Szene unterwegs und knüpft Bande zu den verschiedensten Künstlern: Nicht in Köln, sondern in Portugal lernte er vor ein paar Jahren die Pianistin und Komponistin Joana Sá kennen. Schwiertz fand ihre Musik gleich »muito pisca-pisca« (was soviel wie »viel blinker« heißt), die Künstlerin klagte ihm das Leid der fehlenden Möglichkeiten im kleinen Land am rauen Atlantik, und so war die Geburt von Label und erstes Output beschlossene Sache. »blink 001« ist eine Veröffentlichung, die das Potenzial hat, ein breiteres Publikum anzusprechen. Ist der erste Teil der Komposition »Through this looking glass« ein eher subtiles Update der Musik für präpariertes Klavier basierend auf den Kinderszenen von Robert Schumann, so überrascht der zweite Teil mit dunkel dröhnender Klavierpercussion — es klingt bisweilen wie durch den Gitarrenverzerrer gejagt — und fügt dem Genre eine neue Farbe hinzu. Freunde etwa von experimentellem Industrial oder Glitch à la Aphex Twin während seiner Drukqs-Phase werden das interessant finden.

 

Die Aufnahme macht aber vor allem klar, dass das Spiel auf, am, im und unterm Flügel immer schon eine besonders konzertante Musik ist, soll heißen: der Spielvorgang hat hohen Unterhaltungswert. Das hat sich die Komponistin auch gedacht und ihre Performance von dem Filmkünstler Daniel Neves in Szene setzen lassen. Heraus kam ein eigenständiger Film, der sich überzeugend auf dem schmalen Grat zwischen ästhetisierender Abstraktion und veranschaulichender Dokumentation bewegt (als DVD beigelegt).

 

Hundert Jahre altes Atonales auf 12”-Format inklusive Field-Recording-Kunst, zeitgenössische Experimentalmusik aus Portugal plus Kunstfilm? Ob so viel Eigensinn sich rechnet? Bislang nicht. »Manche kaufen sich für 800 Euro einen Spoiler, ich bring halt ‘ne Platte raus« beschreibt Schwiertz lakonisch sein idealistisches Unterfangen. »Obwohl, so eine Musikproduktion schluckt schon einiges mehr als ein Spoiler«, schränkt er dann doch ein. Selbstausbeutung versus Kommerz, Leidenschaft versus Kalkül. Man kann aber sicher sein, dass eine solche avancierte Veröffentlichungspolitik ihr Publikum findet. Und hoffen, dass das Label irgendwann schwarze Zahlen schreiben wird.