Vom Ton zum Klang

Mit Claude Debussy beginnt eine andere Geschichte der Avantgarde

Etwas populitisch kann man von zwei Strängen in der Neuen Musik sprechen. Einem strukturalen, strengen, geradezu naturwissenschaftlich kühlen und einem klangmalerischen, vagen, assoziativen. Für den ersten steht Arnold Schönbergs (1874-1951) rational konstruierte Zwölftonmusik, für den zweiten Claude Debussy (1862-1918) mit seinen weltmusikalischen Ausflügen, seiner freudigen Verabschiedung abendländischer Harmonik, der Einarbeitung populärer Musik (Jazz, Salonmusik). Schönberg verweist auf das Abgehobene, Elitäre, spontan Nicht-Mehr-Nachvollziehbare der Neuen Musik, Debussy auf Eklektizismus, ungebremste Experimentierfreude, postmoderne Esoterik.

 

Natürlich geht die Rechnung nicht auf, wird man insbesondere beim frühen Schönberg nahezu frei assoziierende Experimente entdecken, und weist jeder halbwegs seriöse Musikwissenschaftler auf die strukturelle Dichte der Werke Debussys hin. Er war kein Eklektiker — eindeutiger Zitate ­enthält sich seine Musik vollständig —, sondern ein Genie darin, bis dato unbekanntes Musikmaterial (die viel beschworenen Gamelan­orchester Javas, die Debussy so liebte) perfekt in eine aus der Romantik ausbrechende europäische Musik zu integrieren.

 

Trotzdem: die Musik Debussys weist in eine andere Richtung, in die einer vor allem klangverliebten, experimentierfreudigen Avantgarde, einer, wenn man so will: »sensationellen«, also starke Sinneseindrücke auslösenden, sich dabei nicht um Grenzen — zum Beispiel zum Jazz — scherenden.

 

Verstärkt und zugleich aufgehoben wird dieser Eindruck durch die aktuelle Wiederveröffentlichung zweier legendärer Klaviereinspielungen, die der Karlsruher Pianist Günter Reinhold 1975 und 1983 vorlegte: Es sind sehr subtile Interpretationen der zwischen 1909 und 1912 entstandenen »Prélude livres I & II«, die einem sofort die Ohren für die Musik des 20. Jahrhundert öffnen. Könnte es sich doch auch um Meditationen eines Modern-Jazz-Pianisten handeln, und es fällt überhaupt nicht schwer, sich vorzustellen, wie die avanciertesten Popbands der 60er und frühen 70er Jahren — allen voran die Beatles — andächtig Debussy lauschten (wobei sie dann doch zu die Sinne aufputschenden Drogen meinten greifen zu müssen). Verstehen wir uns nicht falsch — das ist keine »einfache« Musik, daran lässt Reinhold keinen Zweifel. Man kann der Verwandlung von Tönen in Klänge folgen — am eindringlichsten vielleicht in der Interpretation des berühmten »Voiles« —, aber man muss schon genau hinhören.

 

Hier entsteht eine neue Sprache, die dafür auf altes Material zurückgreift und es weiterspinnt. Immer weiter. Es ist, gerade weil sie so leicht daherkommt, sehr ernste Musik.