Klaus Theweleit, »Buch der Königstöchter.

Klaus Theweleit, Pocahontas and me

Klaus Theweleits üppiges »Buch der Königstöchter« zeigt den Kolonialismus und Sexismus am Grund unserer Zivilisations­geschichte. Wir haben uns mit dem Mythen-Dechiffrierer über Medea, Pocahontas und natürlich Neil Young unterhalten

Die Sieger sind immer bemüht, diese Überläuferfigur Pocahontas oder, bezogen auf die griechische Tragödie, Medea, stark zu machen. Warum ist es so wichtig, Eroberung und Kolonisierung als diese Art von Kompromiss — »Es war doch Liebe!« — darzustellen? Wem bieten sie diese Geschichte an?

 

Die indogermanischen Einwanderer in die Gegend, die dann später Griechenland heißen wird, löschen die einheimische Bevölkerung nicht einfach aus. Es gibt eine Eroberung, es gibt Krieg, die einheimische männliche Bevölkerung wird niedergekämpft, zum Teil getötet — und es bleiben die Frauen übrig. Mit denen findet sukzessive eine Vermischung statt. Später nennen sie sich reinrassig, sie sprechen alle griechisch, aber es sind Mischbevölkerungen. Die Mythen, die über Jahrhunderte nur mündlich weitergegeben werden, stiften, ehe sie viel später von Homer und Hesiod aufgeschrieben werden,  Zusammenhalt, eine neue Kultur. Die Mythen begleiten und ver­schönern den Kolonisationsprozeß: Große Erzählungen, auf die sich schließlich alle einigen können. Aber sie können nicht die Realität offen aus­sprechen: Wir sind einmarschiert und haben eure Männer totgeschlagen. Es geht um Kopplungen: Es finden zwar Vergewaltigungen statt, aber aus diesen werden die Heroen geboren, Herakles, Theseus, Perseus usw. Schließlich werden es behauptete »Liebesverhältnisse«, zwischen Zeus, Poseidon, Apollon und den geschwängerten Königstöchtern, so wird das erzählbar. Die Love Story mildert den Kolonisations­prozess ab, macht ihn annehmbar.

 

Vorläufiger Schluss- und Höhepunkt der Pocahontas-Mythen ist James Camerons Spektakel »Avatar«. Auch hier wird die Geschichte von den Siegern geschrieben, aber das buchstäblich Perverse, also Verdrehte, ist, dass sie ihre eigene Niederlage inszenieren: die hochüberlegene ­US-Army scheitert auf dem fremden Planeten an den Eingeborenen — auf deren Seite der ehemalige Elitesoldat Jake Sully übergelaufen ist. Warum wird der Film dennoch von Ihnen derart heftig kritisiert?

 

Weil der Film auf der materiellen oder formellen Ebene das paradiesisch-idyllische Bild, das er zeigt, völlig konterkariert. Die erste Hälfte finde ich durchaus begeisternd — von den technisch erzeugten Bildern her. Das ist die perfekte Einarbeitung von realen körperlichen Bewegungen der Schauspieler in diese Märchenwelten, eine faszinierende Verschmelzung von Schauspielerleistung und Computer-Animation. Aber da bleibt Cameron nicht. Kolonisierung läuft heute nicht mehr mit den Methoden der frühen Neuzeit, nicht mehr so, wie es den Medea- oder Pocahontas-Mythen zugrundeliegt. Kolonisierung läuft über »Unterhaltung«, nicht mehr über reale Landnahme — das geht nicht mehr, das scheiterte im Irak, das scheitert in Afghanistan. Aber was man besetzen kann, sind die Köpfe, ein technologisch-kultureller Vorgang. Und auf dieser Ebene läuft die zweite Hälfte von »Avatar«: Es ist ein Kampf der Ureinwohner mit Pfeil und Bogen gegen eine übermächtige Interventionsarmee, aber im Inneren der Ureinwohner tickt die modernste Drohnentechno­logie, sie sind Geschöpfe der Technologie, die auch die Waffen steuert, mit denen dieser angebliche »Krieg gegen Terror« geführt wird. Mir ist bei diesem Widerspruch wirklich physisch schlecht geworden, aber der Film ist unfassbar erfolgreich gewesen. Offensichtlich ist den meisten dieser Wider­spruch der auch noch religiös hochgeputschten Idylle nicht aufgefallen.

 

Was heißt das — die Köpfe werden besetzt?

 

Heute haben wir die gesamte Menschheit an der elektronischen Schwelle, ein Prozess, für den die eurasisch-amerikanische Kultur ein paar Tausend Jahre hinter sich gebracht hat, der aber für die meisten Gesellschaften auf diesem Planeten jetzt nur eine Generation dauert. In den meisten Ländern und Gegenden herrschte noch vor einer oder maximal zwei Generationen die Landwirtschaft, es gab keinen Anschluss an unsere technologische Entwicklung — und der Anschluss ist heute total, alle sind an Handys angeschlossen, ans Internet, an die Film- und Musikindustrie, an die Unterhaltungs- und Kommunikationsmedien. Darin sehe ich die neuen Kolonisierungsprozesse, die ja  auch in der Geschichte — nicht nur immer schrecklich waren bzw. sind, nicht nur auf Repression beruhen. Ich beschreibe etwa den Fall der Malinche, die für den spanischen Eroberer Cortez gearbeitet hat — freiwillig, sie nutzt das als Ausstieg aus einer repressiven, auch frauenverachtenden traditionellen Kultur. Viele heutige Frauen — sei es in Indien oder an anderen Stellen  begreifen »das Elektronische« besonders in Verbindung mit Arbeitsplätzen  als Chance, um zu neuen gesellschaftlich-kulturellen Mischformen zu gelangen: zu einer Mestizenkultur, die zum Beispiel für heutige Mexikanerinnen selbstverständlich eine über­legene Kulturform darstellt.

 

Nochmal zurück zu Pocahontas. 1978 veröffentlicht Neil Young den Song »Marlon Brando, Pocahontas and Me«. Er spielt ihn bis heute, die Auseinandersetzung mit den Verbrechen an den Indianern ist ja ein Dauerthema im Werk von Neil Young. »Cortez, The Killer« ist eindeutig, aber »Marlon Brando, Pocahontas and Me« ist kryptisch. Was ist das Geheimnis des Stücks?

 

Neil Young schreibt die Liebeslegende der Pocahontas-Geschichte fort, nicht die Kolonialgeschichte. Es ist nie eine Liebesgeschichte gewesen, das ist erst durch die literarische Auslegung der John Smith-Erzählung passiert — und diese zieht sich durch bis in die heutige Popularkultur, bis Peggy Lee, sie lässt Pocahontas über John Smith sagen: »He gives me fever«. Und Neil Young dichtet nun die Strophe: »I wish a was a trapper/ I would give thousand pelts/ To sleep with Pocahontas/ And find out how she felt«. »She«! Nicht »It«. Er will das — für den Mann Unmögliche — herausfinden: was die Frau fühlt beim Liebes­akt. Und das mit Hilfe eines zweiten Mannes, Marlon Brando und mit Hilfe einer Bezahlung: 1000 Pelze. Ambivalenter geht es nicht. ­Erstens will er nicht mit ihr alleine im Zelt sitzen, zweitens will er ihre Gefühle kennen lernen, drittens ist er immer noch der Trapper, der mit Pelzen bezahlt — Pelze gegen Sex. Als Kolonialist streckt er weiter seine Finger nach ihr aus; andererseits ist sie die mythische Traumfrau, die für seine Befreiung als amerikanischer Mann steht. Er will diese Kolonial­fantasien aus dem Kopf haben; sich vom Fantasma des Kolonialismus befreien, von den Traumata der Vergewaltigung und Ausrottung.

 

Und welche Rolle spielt Brando?

 

Brando, der mit Hinweis auf die Ermordung der amerikanischen Indianer und ihre Behandlung im Hollywood-Film seinen Oscar abgelehnt hat, ist natürlich der beste Partner für dieses indianerliebende Male Couple. Brando hat, wie Neil Young ja auch, keine Gelegenheit ausgelassen, den Mord an den Indianern aufs Tapet zu bringen. Im Song bilden sie aber nun ein Paar etwa wie Old Shatterhand und Winne­tou. Mit der Frage im Hinterkopf, wie »die Frau« wohl fühlt, wenn sie mit einem solchen Mann schläft. Das ist — so sehr ich Neil Young sonst schätze — ein bisschen reichlich kitschig — einerseits. Anderseits ist es die versuchte Bewältigung des amerikanischen Traumas. Indianierinnen sind vergewaltigt worden, und Young würde das gern wiedergutmachen, will wissen, wie es gewesen wäre, wenn es keine Vergewaltigungen gegeben hätte.

 

Aber er kriegt es nie raus.

 

Natürlich nicht. Aber als Songs ist es okay. Immerhin singt er vom »Homeland we’ve never seen«, einem friedlichen America, das es nie gegeben hat.