Die unbekannt Grösse

Der Kölner Komponist Hans-Jürgen Schunk, »Hajsch«, arbeitet seit über zehn Jahren an einer mikroskopisch genauen Musik, die bewusstes Hören provoziert, vielleicht überhaupt erst möglich macht. Ganz nebenbei hat er mit zwei Alben die Postrock-Hausse der 90er Jahre an entscheidender Stelle beeinflusst. Thorsten Krämer hat genau hingehört.

 

Es ist ein Bild, wie es im Bonner Haus der Geschichte hängen könnte: Vor einer Tapete mit Pfeffermühlen und Bierkrügen sitzen eine junge Frau und ein kleiner Junge an einem fast leeren Tisch, darauf nur Zucker, eine Teekanne und -tasse. Die verblichenen Farben des Fotos verwischen etwas den Kontrast, aber auch so ist noch zu erkennen, dass der Kurzhaarschnitt der Frau und ihr roter Pullover in einem auffälligen Gegensatz zur Einrichtung stehen. Zwei Menschen der 60er in einer Wohnung der 50er Jahre. Der Junge, dessen Kopf gerade über den Tisch reicht, heißt Hans-Jürgen Schunk. 1969, das Jahr, in dem die Aufnahme gemacht wurde, markiert nicht nur musikgeschichtlich einen radikalen Wandel, es ist auch die Zeit, in der Schunk nach eigener Aussage damit beginnt, Platten zu sammeln.
Mehr als 20 Jahre später, der Junge ist längst kein Junge mehr, sammelt er nicht nur immer noch Platten, er produziert nun auch selbst welche. Unter dem Namen Hajsch nimmt Schunk 1992 auf seinem eigenen Label Quiet Artworks mehrere Alben auf, die schnell für Aufsehen sorgen. Nicht so sehr beim Publikum, aber dafür bei anderen Musikern, wie etwa dem Amerikaner Jim O’Rourke, der sich zu Anfang der 90er Jahre regelmäßig in Köln und Aachen aufhält. O’Rourke, der kurz darauf zu einem der wichtigsten und umtriebigsten Protagonisten des Postrock aufsteigt, ist fasziniert von der Musik, die Hajsch auf seinem eigenen Label herausbringt. Und er hat regen Kontakt mit Kontakta, jener Gruppe mit Frank Dommert, Georg Odijk, C-Schulz, Monika Westpfahl, Marcus Schmickler und eben Hajsch, die im nachhinein als Keimzelle der Kölner Elektronikszene angesehen werden muss und deren Live-Darbietungen elektro-akustischer Kunst nachhaltig den Boden bereitet haben für die nicht nur hiesige Vermischung der Szenen und Stile in der zweiten Hälfte der 90er.
Doch als in Chicago und anderswo die Postrock-Bombe schließlich zündet, hat Hajsch sich schon
wieder von Kontakta verabschiedet und alle Label-Aktivitäten
eingestellt. Von 1993-95 zieht sich Hajsch fast völlig zurück. Er experimentiert zu Hause mit neuen Klängen herum, eine Entscheidung, die sicherlich dazu geführt hat, dass sein Name in den nächsten Jahren beinahe in Vergessenheit gerät.
Wenn man sich die Aufnahmen von 1992 anhört, drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass es genau umgekehrt war, dass Vergessenwerden nicht der Nebeneffekt, sondern das Ziel des Rückzugs war. Es passiert nicht viel in den fünf Stücken, die jetzt unter dem Titel »1992« und mit dem eingangs beschriebenen Cover auf CD von Sonig wiederveröffentlicht werden, zumindest nicht im herkömmlichen Sinn. Fast unhörbar lösen sich aus der anfänglichen Stille nach und nach Geräusche und Klänge heraus, die sich nur mit Mühe einer bestimmen Klangquelle zuordnen lassen, auch wenn im Booklet die benutzten Instrumente sauber aufgeführt werden. Genauso wenig lassen sich einzelne Musiker heraushören, lässt sich ein Unterschied feststellen zwischen den gespielten Teilen und den Tonaufnahmen, die Hajsch im Feld, also in der realen Welt außerhalb des Studios, gesammelt hat. In den langen Stücken, deren Titel wie »Akasa« oder »Nagual« ebenfalls keine Bildlichkeit hervorrufen, verwischen zusehends die Grenzen zwischen Kunst und Natur, bis am Ende die Musik einfach zu einem Ding geworden ist, einem Gegenstand in der Welt, den man sehen und anfassen kann, der mit einer Selbstverständlichkeit existiert, als habe es ihn immer schon gegeben. Es ist, mit einem Wort, Musik, die auf nichts referiert.
Zwar lassen sich Vorläufer dieser Ästhetik finden, etwa die pianissime zu spielenden Kompositionen Morton Feldmans oder die Konkrete Musik eines Luc Ferrara, aber Hajsch verortet sich nicht in der Neuen Musik und distanziert sich von jeder Theoriebildung. Im Gespräch mit ihm landet man deshalb immer wieder bei Paradoxien: »Authentizität« ist ihm ein wichtiges Kriterium, nicht nur bei der Musik, sondern auch bei der Schauspielerführung im Rahmen seiner Tätigkeit als Regisseur für Audioproduktionen. Doch scheint es ihm kein Widerspruch, dass gerade in dieser »Echtheit« oftmals harte (Vermittlungs-)Arbeit steckt. An einer 1999 erschienenen Platte mit C-Schulz etwa arbeitete Hajsch drei Jahre, und es ist durchaus im Sinne der Musiker, wenn man dem Ergebnis diese Feinarbeit nicht sofort anhört.
Zwar listet Hajsch unter den von ihm geschätzten Popmusikern mit Scott Walker, Brian Wilson oder Van Dyke Parks gerade auch die opulenten Arrangiergenies auf, für seine eigenen Kompositionen aber kanalisiert er deren Sinn fürs Detail auf eine fast schon mikroskopische Ebene. Weniger einem Barock-Maler als einem Zen-Gärtner, der mit gelassener Akribie Stein neben Stein setzt, ähnelt seine Arbeitsweise, bis er schließlich jede Spur seiner Tätigkeit verwischt hat.
Doch auch dieses Bild hat seine Tücken. Denn so wichtig Hajsch das richtige Maß, das »Nicht zu viel, nicht zu wenig«, ist, so großen Wert legt er auch auf die Emotionalität seiner Musik. Sie soll nicht kalt sein, sondern beim Hörer eine spontane Reaktion des Gefühls hervorrufen, Stimmungen transportieren, ohne in Kitsch oder Sentimentalität zu verfallen. Dann wieder verwehrt sich Hajsch dagegen, eine fertige Idee eines Stückes zu haben, lieber arbeitet er von einem Klang zum nächsten, lässt sich von der Musik selbst den Weg zeigen, den er mit ihr zu nehmen hat. So setzt sich Hajschs musikalischer Kosmos nach und nach aus zahllosen Differenzen zusammen, die ihn jeweils von der Neuen Musik, der Improv-Szene, dem Free Jazz oder dem Postrock unterscheiden. Dabei handelt es sich allerdings um keine zur Schau gestellte Originalität, sondern um die Kompromisslosigkeit eines bescheidenen Ästheten und »ungebildeten« Klassizisten (Hajsch hat nie im schulmäßigen Sinne ein Instrument erlernt). Wie wenig er die Gesetze der (Selbst-)Vermarktung befolgt, zeigt sich auch daran, dass er, wenn jetzt mit der Veröffentlichung von »1992« auch das Interesse an seiner Person wieder zunimmt, sympathischerweise mit leeren Händen dasteht. Es gibt kein neues Album, für Remixe ist er nicht zu haben, erst im neuen Jahr beginnt er überhaupt wieder mit dem Musikmachen, das zuletzt gegenüber seinen Radioarbeiten, etwa einem kürzlich gesendeten Beitrag für das Studio Akustische Kunst des WDR, in den Hintergrund getreten ist.
Das Plattensammeln übrigens, das ihn seit 1969 nicht
wieder losgelassen hat, erklärt
Hajsch bezeichnenderweise denn auch nicht mit der Suche nach Einflüssen oder Ideen, sondern
als eine Art Ausschlussverfahren: Er hört noch immer sehr viel Musik, damit er sichergehen kann, nicht etwas schon Vorhandenes zu reproduzieren.
Das größte Paradox dieses dezidiert Widersprüchlichen ist aber dieses: Dass es Hajschs Musik entgegen aller Unwahrscheinlichkeit gelingt, alle diese Ansprüche und Aussagen in sich zu erfüllen und aufzulösen. Wenn am Ende von »Für Cleo 3« ein erster zögernder Ton des Saxofons tatsächlich als solcher zu erkennen ist, fühlt sich der Hörer, als habe er soeben der Erfindung dieses Instrumentes beigewohnt, als habe er den ersten Ton überhaupt gehört, der je aus einem Saxofon gekommen ist. Es ist diese Wiederentdeckung des Hörens, die vielleicht das größte Wunder ist, das Musik erreichen kann.

»1992« erscheint am 30. Januar auf Sonig (Vertrieb: a-Musik/Zomba). Das gleichnamige Album mit C-Schulz ist ebenfalls bei Sonig erschienen.
Mehr Informationen finden sich auf www.hajsch.de