Der verrückte Professor

Die »Herr der Ringe«-Bücher haben nicht nur eine biblische Auflagenhöhe erreicht, sie werden von den Fans auch wie religiöse Werke verehrt. Mit dem Erfolg des ersten Teils der Verfilmung ist eine neue Generation von Tolkien-Lesern herangewachsen. SVEN VON REDEN sprach mit Marcel Bülles (30), dem Vorsitzenden der Deutschen Tolkien Gesellschaft, über das Verhältnis von Film und Buch und den Spagat zwischen Popkultur und Literaturwissenschaft.

StadtRevue: Zunächst die klassische Sportreporter-Frage: Wie hast du dich gefühlt, als du den ersten Teil vom »Herrn der Ringe« gesehen hast?

Marcel Bülles: Die ersten Minuten haben mich umgehauen: Diese brachialen, bildgewaltigen Szenen mit Rückblick in die mythische Geschichte und dann auf einmal ein Schnitt – und da sitzt dieser nette kleine lockige Hobbit und raucht eine Pfeife. Ich war sprachlos.

Du hast auf eurer Homepage geschrieben, der Film hätte nichts mit dem Buch zu tun.

Das ist natürlich sehr provokant. Als Deutsche Tolkien Gesellschaft (DTG) sind wir ein literarischer Verein, und für uns ist das Buch das wichtigste. Das Buch finde ich immer noch tausend mal spannender.

Film und Buch sind nun mal zwei unterschiedliche Medien mit unterschiedlichen Möglichkeiten.

Klar. Ich für meinen Teil sage immer: »Der Herr der Ringe« ist der beste Fantasy-Film, den ich je gesehen habe. Ich muss aber als Vorsitzender der DTG auch Rücksicht auf unsere Mitglieder nehmen. Und es gibt viele, die sagen, ich guck mir den Film nicht an. Diesen ganzen Hype kann ich mir sparen.

Kannst du nachvollziehen, wenn man den Film teilweise gelungener findet als das Buch? Die Charakterzeichnungen etwa gehören ja nicht unbedingt zu den Stärken der literarischen Vorlage.

Die Charaktertiefe bei Tolkien ist natürlich im Vergleich zur modernen Literatur bescheiden. Aufgrund des anderen Mediums hatte Peter Jackson aber die Möglichkeit Tolkiens Andeutungen herauszuarbeiten. Bestes Beispiel ist Boromir. Im Film wird sein Zwiespalt zwischen Freundschaft und Treue gegenüber den Gefährten und dem Drang nach Macht, dem Wunsch der heldenhafte Retter seines Volkes zu sein, hervorragend dargestellt. Ich hätte Sean Bean für seine Darstellung den Oscar als bester Nebendarsteller verliehen. Aber in Hollywood gibt man Fantasy-Filmen noch keine wichtigen Oscars.

Wenn man den Film guckt, hat man das Gefühl, dass er, verglichen mit anderen Literaturverfilmungen, sehr nah am Buch ist. Wenn man aber einzelne Szenen noch mal liest, merkt man, wie stark doch eingegriffen wurde. Wie erklärst du dir diese unterschiedlichen Wahrnehmungen?

Ein großer Teil der Fans würde sagen, dass die Atmosphäre des Buches getroffen wird. Mittelerde ist fast so detailgetreu und schlüssig dargestellt wie bei Tolkien. Regisseur Peter Jackson hat nichts aufs Set gelassen, was von ihm nicht selber vorher mit einem Häkchen versehen wurde – er ist fast genauso verrückt wie der Professor (Tolkien, Anm. d. Autors). Diese Akribie ist etwas, was den Film zu einer der besten Literaturverfilmungen macht.

Wie geht ihr mit den neuen Fans um, die erst durch den Film zu Tolkien gekommen sind?

Unsere Arbeit bei der DTG hat das völlig verändert, allein dadurch, dass wir immer mehr Mitglieder haben. Anfang letzten Jahres waren wir um die 40 bis 50 Leute, jetzt sind wir 400. Wenn das so weitergeht, sind wir Ende des Jahres bei 1.000. Es gibt einen großen Unterschied vor allem beim Alter der Fans. Bei den letzten Tolkien-Tagen im Jugendzentrum in Sülz kamen auch zwölfjährige Kids.

Die dürfen doch noch gar nicht in den Film.

Ich habe mich auch ein bisschen gewundert. Aber ich handele nach dem Motto: Die Fans von heute sind die Mitglieder von morgen. Wenn der Weg vom Gameboy zum Film zum Buch geht, ist das ein Erfolg. Anfang nächstes Jahr soll es daher ein Jugendprojekt geben zusammen mit dem Jugendzentrum in Sülz, da machen wir ein ganzes Wochenende Tolkien für Kinder.

Die Mitgliedschaft der Kölner Proust-Gesellschaft ist sicherlich homogener.

Wir wissen auch noch nicht, ob der Spagat klappt zwischen Fantum und Literaturwissenschaft. Die DTG ist erst dieses Jahr dem Dachverband der literarischen Gesellschaften in Deutschland beigetreten. Ich musste Anzug und Krawatte anziehen, mich vor all diese Professoren und Doktoren stellen und begründen, warum wir gerne Mitglied werden möchten. Wir werden schon ein bisschen belächelt. Auf der anderen Seite hätten die anderen Gesellschaften natürlich auch gerne so viele junge Mitglieder wie die DTG. Und wir haben viel vor. 2005 wollen wir in Wetzlar eine große Tolkien-Konferenz veranstalten, zu der Akademiker aus aller Welt kommen sollen. Wir haben etwa Tom Shippey eingeladen, den größten Experten zum Thema. Ab 2003 wollen wir eine wissenschaftlich-literarische Reihe herausgeben, zweisprachig Deutsch/Englisch, die sich moderner Fantasyliteratur widmet. Wir konnten schon sieben Herausgeber gewinnen, alles angesehene Akademiker aus Deutschland, Österreich, Belgien und der Schweiz. Auf der anderen Seite haben wir all diese kleinen, netten Kinder, die zu uns kommen, um Tolkien näher kennenzulernen. Das sind Entwicklungen, die schwer miteinander zu vereinbaren sind, aber wir versuchen es einfach. Es ist doch schockierend, dass die Goethe- und die Schiller-Gesellschaft, die größten literarischen Vereinigungen in Deutschland, gerade mal 5.000 Mitglieder haben. Im Land der Dichter und Denker haben Bezirksliga-Fußballvereine mehr Mitglieder. Ich finde, als literarische Gesellschaft muss man den Mut haben, allen etwas anzubieten.

Warum ist nach deiner Meinung »Der Herr der Ringe« der am meisten verkaufte Roman der Menschheitsgeschichte?

Die einzigen Bücher, die noch mehr verkauft haben, sind die religiösen Glaubensbekenntnisse: die Bibel, der Koran, die Thora. Das liegt wohl kaum am guten Marketing der Filmfirma. Man könnte natürlich genauso fragen, warum ist Shakespeare auch nach 500 Jahren noch so erfolgreich? Er ist zeitlos. Aber was heißt das? Ich glaube Tolkien hat immer wieder Punkte aufgenommen, von denen sich jeder angesprochen fühlt: Ob man nun Atheist oder Christ ist, ob man ökologisch interessiert ist oder nicht, ob man technologisch interessiert ist oder nicht, ob man historisch interessiert ist oder nicht. Wie Shakespeare hat Tolkien überall geliehen, ein bisschen was dazugefügt und alles in schöne Sprache gekleidet. Um den Erfolg erklären zu können, muss man sich die großen nordwesteuropäischen Mythen und Epen genauer anschauen. Denn die Grundlage für den »Herrn der Ringe« ist das finnische Nationalepos »Kalevala« und die ältere und jüngere »Edda«, also Schriften, die zwischen dem achten und zehnten Jahrhundert aufgeschrieben wurden. Tolkien hat ein Genre, das jahrhundertelang tot war, wiederbelebt und etwas sympathischer gestaltet. Es geht hier nicht um einen großen Helden, der irgendeinen Drachen erschlägt, sondern um kleine, wuschelige Leute mit Haaren auf den Füßen.

Wie stehst du der totalen Vermarktung Tolkiens gegenüber?

Für mich ist die Grenze dann erreicht, wenn nicht mehr eigene Leidenschaft und eigenes Interesse dahinter steht oder der Bezug zu Tolkien fehlt. Ein Beispiel: die Tabletop-Spiele von Games-Workshop. Man hat eine Landschaft aus Mittelerde, die ein bißchen nach Märklin Modelleisenbahn aussieht, darauf sind kleine Figürchen, die gegeneinander kämpfen und vielleicht noch Aufgaben erfüllen müssen. Da frag ich mich: Ist das nötig? Aber die Leute, die das herstellen, sind durch die Bank Tolkienfans seit 20, 30 Jahren, die haben dafür gekämpft, dass sie diese Lizenz kriegen. Es gibt halt Leute, die gerne Figürchen anmalen und die einen ganz anderen Weg zu Tolkien genommen haben als ich, aber das Buch ist trotzdem der Ursprung. Die DTG hat irgendwann gesagt, unsere Mitglieder sollen alles sehen und sind selber intelligent genug zu entscheiden, ob sie dafür Geld ausgeben oder nicht. Wir schließen nur Produkte aus, die ganz klar ein falsches Bild von Tolkien oder der literarischen Vorlage geben.

Bekommst du für deinen Einsatz Geld?

Ich habe schon mal Klappentexte und Übersetzungen gemacht und damit hier und da mal einen Euro verdient. Aber leben kann man davon nicht im entferntesten. Viele Freunde sagen immer, Marcel, du bist so bescheuert, dass du damit kein Geld machst. Aber ich bin halt ein Idealist oder einfach zu doof dazu. Es ist leider so.

Der Herr der Ringe – Die zwei Türme (The Lord of the Rings – The Two Towers) USA/NZ 02, R: Peter Jackson, D: Elijah Wood, Ian McKellen, Viggo Mortensen, 179 Min. Start: 18.12.

Kontakt zur DTG: www.tolkiengesellschaft.de