Psychiatrie und Risikogene

Vieles in der genetischen Forschung zielt auf die Wiederherstellung körperlicher Unversehrtheit. Doch kann sie auch einen Beitrag zu seelischer Gesundheit leisten? Die Biologische Psychiatrie glaubt fest daran.

Seelisches Leid wird als Fehlfunktion des Gehirns gesehen, Liebeskummer auf biochemischer Ebene beobachtet, die Neigung zur Angst auf den Chromosomen 2p, 9p und 17p vermutet. Innerhalb der modernen Psychiatrie dominiert wieder der Glaube an die Biologie als Ursache für geistige Krankheit. Die lange Zeit dominierende Sozialpsychiatrie sucht die Gründe für psychische Störungen vor allen Dingen in Umwelteinflüssen und Erziehung, wo hingegen sich die Biologische Psychiatrie durch Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften und der Genetik in der Annahme bestätigt sieht, dass es notwendig sei, die biologische Grundlage psychischer Störungen zu untersuchen. Erste Risiko-Gene für Schizophrenie, Angststörungen, Depression, Alzheimer, Nikotinsucht, Essstörungen und Alkoholismus seien bereits lokalisiert worden, war erst kürzlich auf dem Weltkongress der Biologischen Psychiatrie in Berlin zu vernehmen.
Die Erforschung der Nervenkrankheiten durch Neurologen, Neurochemiker und Neuropharmakologen lieferte der Biologischen Psychiatrie schon häufiger Grundlagen zur Erklärung seelischer Krankheiten. Zwar erforschen die Neurowissenschaften in erster Linie Krankheiten, die durch genau definierte Hirnstörungen verursacht werden, z. B. durch einen Schlaganfall, Verletzungen oder Parkinson. Aber auch über Krankheiten wie Schizophrenie weiß man heute dank der Neurowissenschaften einiges mehr. Der ständige Erkenntnisgewinn bestärkt die Biologische Psychiatrie in ihrer Grundannahme, dass mit dem weiteren Anwachsen des Wissens für jede seelische Erkrankung eine Fehlfunktion im Gehirn zu finden sein wird.

Suche nach Risiko-Genen

Das Rheinland zählt zu den Zentren der Biologischen Psychiatrie in Deutschland. Insbesondere an der Universität Bonn arbeiten Humangenetiker, Neurowissenschaftler und Psychiater eng zusammen. Der Bundesregierung ist die Erforschung genetischer Ursachen von Nervenkrankheiten in den nächsten drei Jahren insgesamt 30 Millionen Mark wert. Allein neun Millionen fließen an die Uni Bonn. In Bonn sollen, wie auch in München – einem weiteren Zentrum der Psychiatrischen Forschung –, sogenannte Ressourcenzentren für DNA und Zelllinien aufgebaut werden, unter anderem von Patienten, die an psychiatrischen Therapie- und Verlaufsstudien teilnehmen.
Warum trotz der Erfolgsmeldungen über Gen-Funde soviel Geld in weitere Forschungen gesteckt wird, wird verständlich, wenn man weiß, dass man noch nichts über ein Risiko-Gen weiß, solange es nur lokalisiert ist: Zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht viel mehr klar, als dass Gene, die das Risiko an Schizophrenie zu erkranken erhöhen, sich möglicherweise auf bestimmten Chromosomensträngen befinden. Als 1988 verkündet wurde, das Gen für Schizophrenie sei gefunden worden, musste diese Behauptung noch im selben Jahr zurückgenommen werden – veröffentlicht wurde das jedoch nur in den Wissenschaftsmagazinen Nature und Science.
Auch Prof. Peter Propping, Direktor des Instituts für Humangenetik an der Uni Bonn, wird die Forschungen mit großem Interesse verfolgen. Er hatte 1997 bekanntgegeben, einen engen Zusammenhang zwischen einer bestimmten Region auf Chromosom 18 und Depression nachweisen zu können. Ein »verantwortliches Gen« konnte aber auch in diesem Fall nicht isoliert werden. Doch selbst wenn man Risiko-Gene identifiziert hat, weiß man noch nichts über die Entstehung von psychischen Erkrankungen. »Man weiß ja heute, dass Gene nicht direkt, sondern über die Messenger-RNA körperliche Entwicklungen auslösen. Uns geht es nun darum, zu verstehen wie dieses Protein gebildet wird, um Einfluss nehmen zu können«, erklärt Peter Falkai, Direktor der Abteilung für Medizinische Psychologie an der Bonner Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. »Aber«, so Falkai weiter, »die Kenntnis der genetischen Grundlagen psychischer Erkrankungen ist nur ein Mittel auf dem Weg zum Verständnis psychischer Störungen.«

Menschliche Gene im Mäusehirn

Die biologische Psychiatrie geht in ihrer Ursachenbeschreibung von einem sogenannten Vulnerabilitätsmodell aus. Da psychische Erkrankungen ausnahmslos komplexe Erkrankungen sind, wird nach dem Vulnerabilitätsmodell erst das Miteinander von Umwelt und Biologie zur Ausbildung des Krankheitsbildes führen. Gene, aber auch Umwelteinflüsse wie frühkindliche Entwicklung, Erziehungsstil und Stress in Berufsalltag und Familienleben werden zusammen betrachtet. »Die Identifizierung solcher Risikofaktoren hat eine enorme Bedeutung für die Behandlung, aber auch insbesondere die Prävention von psychischen Erkrankungen«, sagt Falkai.
Da das Hauptarbeitsfeld der Biologischen Psychiatrie das Verständnis der neurobiologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen ist, ist natürlich auch das Gehirn weiterhin Gegenstand der Forschung. »Psychische Erkrankungen sind Hirnerkrankungen«, so Peter Falkai, der nicht nur Direktor der Abteilung für Medizinische Psychologie ist, sondern auch Leiter der Arbeitsgruppe Psychiatrische Hirnforschung. Um herauszufinden, »was sich im Gehirn verändert hat, wenn jemand an einer Depression erkrankt ist«, baut die Klinik derzeit mit dem Institut für Neuropathologie das Brain Bank Centrum Bonn auf. Diese Bonner Einrichtung ist Teil des im Oktober 1999 gegründeten Brain-Nets, das vom Bundesforschungsministerium bis 2002 mit 8,5 Millionen Mark gefördert wird. Im Brain-Net haben sich zehn universitäre Hirnbank-Zentren zusammengeschlossen, in denen die Gehirne Verstorbener indikationsspezifisch gesammelt werden. Die Gehirne von Süchtigen werden vor allem in Würzburg gesammelt, die schizophrener Patienten in Magdeburg und die Gehirne von Depressiven in Bonn.
Laut Falkai ist es notwendig, die Hirne von verstorbenen Menschen mit psychischen Störungen zu untersuchen, da alle modernen bildgebenden Verfahren die Ebene der Nervenzellen nicht darstellen können. Sind einmal die grundlegenden neurobiologischen Mechanismen bekannt, so werden diese genutzt, um in Tierversuchen die Hauptstörung nachzustellen. »Es gibt mittlerweile Mausmodelle mit typischen Veränderungen, wie wir sie bei Patienten mit der Alzheimerischen Erkrankung kennen, nämlich Proteinablagerungen (Plaques) und Fibrillen. Diese Mausmodelle erlauben es uns dann spezifische Medikamente zu entwickeln, um die Entstehung solcher Proteinablagerungen zu verhindern«, erklärt Falkai.

Gemeinsam gegen Schizophrenie

Die Bonner Forscher zählen zu den wichtigsten Akteuren der psychiatrischen Forschung, die einzigen sind sie nicht. Um die Versorgungspraxis in der Psychiatrie zu verbessern, arbeiten sie mit anderen Forschungsinstituten und Kliniken in bundesweiten Netzwerken zusammen. Das vom Bundesforschungsministerium finanzierte Kompetenznetzwerk Schizophrenie beispielsweise besteht aus 16 psychiatrischen und fünf jugendpsychiatrischen Universitätskliniken, 14 Krankenhäusern sowie sechs Arztpraxisverbänden. Man will ein umfassendes System aus Früherkennung, gendiagnostischer Identifikation und therapeutischer Intervention aufbauen: »Ziel ist es, die genetischen Bedingungsfaktoren zu identifizieren und damit das Risiko gefährdeter Personen, im Laufe ihres Lebens an Schizophrenie zu erkranken, besser abschätzen zu können«, so die Selbstdarstellung des Netzwerkes. Unter anderem geht es darum, zukünftig zu Präventionszwecken »Risikopatienten« bestimmen zu können, aber auch um Rückfallprophylaxe und das Verhindern chronischer Erkrankungen. Der Bundesregierung ist die Unterstützung des Netzwerks fünf Millionen Mark pro Jahr wert. Das ist leicht nachvollziehbar: Schizophrenie ist die teuerste psychische Erkrankung überhaupt, ihre Kosten sind denen von Volkskrankheiten wie Diabetes oder Herzerkrankungen vergleichbar.
Zur Früherkennung sollen »Vorfeldeinrichtungen« in die Fahndungsmaschinerie einbezogen werden, also Schulen, Erziehungsberatungsstellen oder Hausärzte. Dort werden dann mittels Screening-Bögen Leute identifiziert, die »Symptome und Beschwerden haben, die auf ein erhöhtes Risiko hinweisen könnten«. In einem Stufenmodell soll die Diagnose verfeinert werden. Doch die Symptome im Frühstadium sind so unspezifisch, dass viele Menschen darunter fallen: »Konzentrationsstörungen, Antriebsverlust, sozialer Rückzug« werden genannt. Natürlich wolle man niemanden zu einem psychiatrischen Fall machen, erklärt Peter Falkai. Doch gerade dass die Früherkennung so schwierig sei, sei ein guter Grund für das Netzwerk und die Suche nach genetischen Faktoren.

Neue Medikamente

Neben der Früherkennung gilt die Aufmerksamkeit des Netzwerks einer Spezialität der Biologischen Psychiatrie, der medikamentösen Behandlung. Falkai geht davon aus, dass bei leichteren Störungen in der Regel Gesprächstherapien ausreichen, »bei schweren endogenen Depressionen müssen aber immer auch die Depressiva gegeben werden.« Laut Falkai möchte die biologisch orientierte Psychiatrie die Mechanismen verstehen, warum einzelne Personen unter Umweltbelastungen zu einer depressiven Reaktion neigen und andere nicht: »Werden diese Zusammenhänge eines Tages verstanden, so werden wir auch in der Lage sein, nebenwirkungsarm ursächlich zu behandeln.«
Das Versprechen, neue nebenwirkungsärmere Medikamente zu entwickeln, wird von den Pharmakonzernen gerne gehört, und die Forschungen werden dementsprechend gerne unterstützt. Nicht nur dass die Nebenwirkungen gängiger Psychopharmaka immens sind, auch die Fälle die zu Schadensersatzklagen führen, haben in den vergangenen Jahren selbst bei außergerichtlicher Einigung Kosten in Millionenhöhe verursacht.