Gefühlte Esoterik

Keine Wissenschaft hat in den letzten Jahren eine derartige Breitenwirkung erzielt wie die Meteoro-logie. Freilich um den Preis, dass sie bald als Pseudo-Wissenschaft gelten wird, deren Fachbücher auf Esoterik-Messen ausliegen. Ich rede nicht vom Klimawandel. Da-rüber streiten Kritiker, die keine Ahnung haben, mit Verteidigern, die keine Ahnung haben. Ich meine die Wettervorhersage, da kann jeder mitreden. 

 

Die Popularisierung des Wetter-berichts hat zugleich seinen Niedergang eingeleitet. Die Berichte sind geschwätzig. Der Trick, einen Wust statistischen Materials bereitzustellen und fragwürdige -Parameter einzuführen (Was bitte bedeutet »Regenwahrschein-lich-keit« genau?), wird bereits zur Komplizierung und Aufwertung der Sportberichterstattung benutzt. Man kann halt noch ein wenig -länger schwadronieren, wenn man die Werte für gescheiterte Flan-kenwechsel beziehungsweise das Monatsmittel des Luftdrucks berücksichtigt. 

 

So sah ich psychedelische »Strömungsfilme«, die zerfließenden Van-Gogh-Gemälden glichen; ich wunderte mich über »15-Tage-Trends«, die in Kreisen seriöser Forschung etwa den Stellenwert von Aura-Fotografie haben; und ich war dabei, als sie die unheilvolle Formulierung von der »gefühlten Temperatur« etablierten, die heute als rhetorische Krücke im Falle fehlender Fakten oder faulem Denken für viele Bereiche übernommen wird.  

 

Gefühlte fünfzig Mangold-Feta-Quiches müsse sie noch backen, sagte denn auch Gesine Stabroth neulich, und die Pinienkerne seien alle aus dem Tütchen hinter den Herd gerieselt! Totaler Stress! Warum sie denn solch einen Kohldampf schiebe, wollte ich wissen. Kohldampf?! Das sei doch für ihr kleines »einjähriges Jubiläum« im Schrebergarten, ach so, ich sei natürlich auch eingeladen. Gefeiert werde aber nur, »wenn das Wetter schön ist«. Sonst falle die Feier aus, so Gesine Stabroth barsch. Sie habe schließlich keine Lust, mit vierzig Leuten in ihrer Wohnung rumzustehen, nachher sei alles dreckig und kaputt und voller Quiche--Krümel und »irgendein notgeiler Besoffski« wolle bei ihr übernachten. Die Prognose besage aber, dass das Wetter schön werde. Gesine Stabroths neues Smartphone macht solchen Unfug möglich; wenn etwas digital blinkt, halten Menschen es für wahr. 

 

Ich sprach einen Mathematiker, dessen Fachgebiet nicht-lineare Dynamik war. Er sagte, Wettervorhersagen, die diese Bezeichnung verdienten, seien unmöglich. Man könne stattdessen einfach behaupten, dass das Wetter morgen genauso sein werde wie heute — die Wahrscheinlichkeit liege stets bei 60 Prozent. 

 

Spätestens seit den 80er Jahren gilt das Wetter als chaotisches System. Wir wissen zu wenig, um seine Entwicklung zu berechnen. Wenn ein Meteorologe oder Wetter-App-Programmierer Gesine Stabroth versichert, dass am Sonntag über ihrem Schrebergarten weder Regentropfen noch pinkelnde Zugvögel oder Meteoriteneinschläge zu erwarten seien, sollte Gesine Stabroth dem Charme dieses Scharlatans nicht erliegen. Gut möglich, dass dieser in der Hitze übereilter Zuneigung einen Rundungsfehler begeht, der eine Sintflut verschleiert.

 

Aber viele Menschen erkennen noch nicht mal schönes Wetter. Die niedlichsten Cirrocumuli können den Himmel zieren, sanfte zwei bis drei Beaufort uns umschmeicheln — all das gilt nichts, sobald nur eine Regentropfen-Sichtung im näheren Umkreis kolportiert wird. Jedes Grillfest endet in einem Tumult.  

 

Das Sommerfest fand dann doch statt. Denn es war »schön«, also viel zu heiß für draußen. Ich aß ein gefühltes Dutzend Mangold-Feta-Quiches, obwohl die Pinienkerne komisch schmeckten.