In der Dämmerung wird die Welt verletzlich

Thriller, Sexfilm oder Drama? Auf jeden Fall große Kinokunst: Alain Guiraudie über seinen ebenso minimalistischen wie komplexen Sommerfilm Der Fremde am See

Der »Fremde am See« spielt an einem Schwulenstrand mit benachbarter Cruising-Zone. Was auf den ersten Blick wie ein Film über eine bestimmte Szene wirken könnte, greift aber weit universellere Themen auf: etwa Einsamkeit und die Suche nach Liebe. Es hat mich nicht interessiert einen »schwulen« Film zu machen. Mein Gedanke war, von einem sehr speziellen Mikrokosmos auszugehen, von dem ich weiß, wie er funktioniert, um von dort auf das menschliche Wesen zu kommen. Ich denke, wenn man ganz intim bleibt und über etwas sehr Persönliches redet, dann gelingt eine Öffnung, die auch andere erreichen kann. 

 

Sex spielt zwar eine große Rolle und wird auch deutlich gezeigt, dennoch wird ihr Film niemals pornographisch. Vielen Dank. Laut Konvention gehört expliziter Sex in den Bereich des Pornos: Das ist schmutzig und banal. Aber alles, was mit hehrer Leidenschaft zu tun hat, gilt als poetisch und großes Kino. Ich wollte flüssige Übergänge und Verbindungen zwischen diesen vermeintlich konträren Dingen schaffen. Nicht, um zu provozieren, sondern weil Sex, Lust und Liebe einfach zusammengehören und deshalb auch zusammen gezeigt werden müssen.  

 

Lange, oft statische Einstellungen von wiederkehrenden Motiven verleihen dem Film seinen sehr eigentümlichen Rhythmus. Wie haben Sie mit Ihrer Kamerafrau Claire Mathon diese Bildsprache entwickelt? Diese wiederkehrenden Motive waren von Anfang an Teil unsers Konzepts. Zugleich ging es auch darum, diese Motive in der Wiederholung aufzubrechen. Nur bei den Eröffnungsszenen auf dem Parkplatz ist das wirklich immer die gleiche Einstellung, die gleiche Kameraachse und Brennweite. Aber bei allen anderen wiederkehrenden Szenen gibt es immer leichte Veränderungen. Der schwierigste Teil der Arbeit war, mit dem Licht umzugehen. Denn wir haben nur mit dem natürlichen Sonnenlicht gedreht und zudem Lichtphasen gewählt, die schwierig einzufangen sind: Nachmittag, Sonnenuntergang usw.

 

Die Veränderung der Lichtverhältnisse und Umgebungsgeräusche scheint für die zeitliche wie emotionale Rhythmisierung von großer Bedeutung gewesen zu sein. Wir haben alles vor Ort gedreht, nur mit direktem Ton aufgenommen und nichts hinzugefügt. Wir haben also das genommen, was uns die Natur angeboten hat: Ein Ton am frühen Nachmittag klingt ganz anders als ein Ton am Abend. Aus der Symphonie dieser sich verändernden Töne erwächst aus meiner Sicht auch die spezielle Sinnlichkeit des Films. 

 

Ist Ihr Film auch eine Meditation über die Vergänglichkeit des Augenblicks? Ich habe darüber nicht unbedingt meditiert. Aber wir haben wohl intuitiv darauf hingearbeitet — bei der Auswahl der Bilder oder bei der Länge der Einstellungen. Das Interessante ist, dass gewisse Schnittbilder etwa vom Hügel oder vom Himmel im Gesamtgefüge des Films auf einmal eine andere Dimension erreichen — zeitlich und räumlich.

 

Zentrale Momente ereignen sich in der Dämmerung. Kommt ihr als Zwischenzeitraum eine Schlüsselstellung zu? Die Dämmerung ist ein Moment, in dem man unglaublich verletzlich ist. Wo auch die Welt verletzlich wird. Sie ist eine Zeit existenzieller Ängste, die Zeit, zu der man als Kind schlafen musste und der Tag zu Ende war. Selbst beim Drehen ist das eine sehr heikle Situation. Man hat schließlich nur Zeit für zwei, drei Einstellungen, bevor die Nacht einbricht. Ich mag diese Konzentration. Und ich mag die Dämmerung sehr, wenn ich auch bis heute irgendwie Angst vor ihr habe.

 

Gerade die Methoden der Kontaktanbahnungen im Wald tragen stark ritualisierte Züge. Rituale, mit denen sich die soziale Gemeinschaft stabilisiert, die sich aber im Kern als fragwürdig erweist, was man an der Figur des Inspektors sieht. Es ist ja eine sehr kleine Welt, die auf eine sehr realistische Weise dargestellt wird. Jemand, der das kennt, hält das für glaubwürdig. Aber für jemanden, der so etwas noch nie gesehen hat, wirkt das wie Science Fiction. Der Inspektor ist eine Figur zwischen diesen beiden Perspektiven. Er verbindet den Zuschauer mit dieser Welt des Films. Und er stellt Fragen, die auch ich mir stelle: Was ist das für eine Gemeinschaft, wenn man zwei Stunden mit jemandem auf sehr angenehme Weise verbringt und sich noch nicht mal nach dem Vornamen fragt? 

 

Sie haben die drei Hauptfiguren, den Protagonisten Franck, den Aufreißer Michel und den Außenseiter Henri als Facetten einer Figur beschrieben: inwiefern? Einerseits stehen sie für drei verschiedene Facetten des Begehrens. Und da man sich auch immer selbst einbringt, sind sie andererseits wohl auch drei verschiedene Aspekte von mir selbst.

 

Ist der See für die Figuren auch ein Fluchtort vor der Außenwelt?  Das ist etwas, woran ich bislang noch nicht gedacht habe, aber ja, für Franck stimmt das auf jeden Fall. 

 

Ist die Angst vor der Einsamkeit größer als die Angst vor dem Tod? Auf jeden Fall. Aber vielleicht ist auch der Tod die größte Einsamkeit. Das können wir ja nicht wissen. Deshalb war das Ende so wichtig, weil Franck hier mit dieser existenziellen Frage konfrontiert wird und mit ihr umgehen muss.