Matschiges Deutschland

Monumental-Chronik: »Die andere Heimat«

von Edgar Reitz

Nach dem eher misslungenen »Heimat 3 — Chronik einer Zeitenwende« (2004) überrascht es umso mehr, dass »Die andere Heimat — Chronik einer Sehnsucht« Edgar Reitz’ großartigstes Werk seit mehr als drei Dekaden geworden ist. Der Altmeister des Jungen Deutschen Kinos der 60er und 70er Jahre bereichert die Filmgeschichte noch einmal mit einem knapp unter vier Stunden langen Monument, vor dem man ehrfürchtig in die Knie gehen kann. 

 

»Die andere Heimat« ist nicht nur eine Art Vorgeschichte zu den »Heimat«-Fernseh-Epen um das Dorf Schabbach und dessen Bewohner, sondern auch eine Summe seines gesamten Schaffens — wer mit Reitz’ Kino vertraut ist, wird Themen und Obsessionen, gestalterische Ideen und Impulse erkennen können, die bis in die Anfänge seines Werks reichen.

 

»Die andere Heimat« spielt in der ersten Hälfte der 1840er Jahre, als es langsam ernst wurde mit der Gründung eines Staates namens Deutschland — während zugleich Millionen aufbrachen, um den Zuständen daheim zu entfliehen: der Unterdrückung, der Ausbeutung und der zum Teil ungeheuerlichen Armut. Was auch immer jenseits der Meere in der sogenannten Neuen Welt auf sie wartete, es musste besser sein.

 

Jakob, Sohn des Dorfschmiedes, liest jedes Buch über Brasilien, über dessen Urvölker und deren Sprachen, das ihm in die Finger fällt. Sein exotisches Interesse macht ihn dem Vater unheimlich. Der würde sich eher noch einen Burschen wünschen wie Jakobs so tüchtigen wie tatkräftigen Bruder Gustav. Jakob wird eher zufällig die schönste Frau des Dorfes bekommen, die vor Lebenslust strahlende Florine, daheim bleiben und dennoch mit seinem Geist tief eindringen in die südamerikanische Urwälderwelt — während Gustav genau dorthin zieht und mit ihm jene Frau, Henriette, welche er seinem Bruder genommen hat.

 

Ausgebreitet wird die Erzählung in einem ganz wunderbaren Schwarz-Weiß mit Farbeinsprengseln, mit mal breit ausgespielten Szenen und mal wahnwitzig weiten Ellipsen, mit einer Lust sowohl am Schwärmen, sich Versteigen in Träu-men und Visionen, als auch am Ver-sinken in den Details der geschil-derten Agrarkultur, dem Matsch, den Rissen im Holz. Reitz hat mit knapp achtzig Jahren die optimale Form gefunden für alles, was ihn nunmehr rund sechs Jahrzehnte umgetrieben hat — und viel-leicht sogar die optimale Form für den Jungen Deutschen Film als solches.