Foto: Manfred Wegener

Yoga

Dehnung für den inneren Frieden

Lifestyle? Oder Weltanschauung? Altindische Weisheit? Westlicher Wahn? Oder alles zusammen? Yoga ist ein Massenphänomen, natürlich. Aber einfach zu fixieren ist es nicht, es ist weder Sport noch Therapie. Es kann befreiend wirken und doch gesundheitsschädlich sein. Man kann mit Yoga alles richtig machen — oder alles falsch. Der Grat ist schmal. Aber am Ende, weiß Felix Klopotek aus eigener Anschauung, kann man darauf sicher balancieren. Maria Kameke zeigt Yoga-Positionen mitten im städtischen Alltag und kommentiert sie, fotografiert von Manfred Wegener.

 

Der Hund stand an der Bahnsteigkante und schaute in Richtung des einfahrenden Zuges. Als die Bahn ungefähr auf gleicher Höhe mit ihm war, rannte der Hund los und lieferte sich ein irrwitziges Wettrennen mit dem Zug, das der Hund natürlich irgendwann gewinnen sollte, weil der Zug schließlich anhielt. Es war eine schon frostige Novembernacht, der Boden ein bisschen glitschig, und der Hund rannte die äußerste Kante entlang, Zentimeter von der Katastrophe entfernt. Ein Fehltritt, ein Rutscher, und das Tier wäre unweigerlich zerquetscht worden. Die Bahn hielt, der Hund sprang locker in den ersten Waggon und trabte gemütlich zu seinem Besitzer zurück, der ganz hinten eingestiegen war. Der Hund hatte das wohl nicht zum ersten Mal gemacht — Er macht das, weil der Hund gar nicht weiß, dass er in Gefahr ist, wüsste er es, er würde verkrampfen und dann erst recht ausrutschen — oder er würde gar nicht erst loslaufen: So oder so ähnlich würde die Erklärung von uns Vernunftlern für diesen Sprint lauten. Diese Erklärung setzt bei der Reflektion an, und der Hund reflektiert nun mal nicht (angeblich). Man kann aber auch vom Körper ausgehen: von einem Körpergefühl, das in sich ruht, das um seine Mitte weiß und von dieser Mitte aus die Bewegungen koordiniert, den richtigen Einsatz von Kraft und Geschwindigkeit. Demnach kommt der Hund nicht aus dem Takt und verliert nicht sein Gleichgewicht. Und die Katze fällt immer auf ihre Füße — wenn sie denn überhaupt fällt. Im Yoga dreht es sich genau darum, oder sagen wir korrekter: sollte es darum gehen — um die innere Mitte, das Gleichgewicht als Ausgangspunkt einer besseren Körperhaltung und letztlich auch einem besseren Weltumgang.

 

Wirklich? Der Autor dieser Zeilen benötigte eines Morgens eine schmerzhaft gefühlte halbe Stunde, um sich den linken Socken anzuziehen, und eine noch schmerzhaftere zweite für den rechten. Er bewegte sich an diesem Tag im Zeitlupentempo und im Neunzig-Grad-Winkel. Der burschikose Orthopäde sprach von einer leichten Bandscheibenirritation, verpasste ihm eine Spritze und zwickte ihn in den Bauch (Körpermitte!) — haha, da haben Sie ja gar keine Muskeln, da müssen Sie aber was tun. Ende der Behandlung. Das war dann der Moment, wo ich mir gesagt habe: Du könntest es doch mal mit Yoga probieren. 

 

Und da geht es mir wie wahrscheinlich den meisten jener fünf Millionen in Deutschland, die heute, gestern oder in den vergangenen Jahren mit Yoga begonnen haben: Es ist Mittel zum Zweck. Wird weitgehend ideologiefrei betrieben, man nimmt sogar eine ironische Haltung zum religiös-spirituellen Background ein. Als es bei der letzten Fußball-WM nicht so recht für ihn lief, soll der Trainerstab der englischen Nationalmannschaft ihrem Superstar Wayne Rooney Yoga empfohlen haben. Eine lus-tige Vorstellung — der Ultraproll und das Oooommmm, der nervöse Brummer Rooney mal ganz tiefenentspannt. Tatsächlich sieht man Fußballprofis beim Aufwärmen Yoga-Übungen machen. Es ist aber kein Yoga, sondern Pilates. Während des ersten Weltkrieges hat der Mönchen-glad-bacher Turner und Bodybuilder Joseph Hubert Pilates in britischer Kriegsgefangeschaft dieses Ganzkörpertraining, so der Fachausdruck, aus unterschiedlichen Versatzstücken komponiert — darunter eben auch Yoga-Sequenzen.

 

Yoga wird also als Gymnastik eingesetzt oder als Pool begriffen, aus dem sich andere Gymnastikarten bedienen. Man pflegt — als Ausübende wie als Unterrichtende — ei-nen pragmatischen, eklektizistischen Umgang mit Yoga. Das wird auch ganz offiziell gefördert: Yoga-Kurse werden von der Krankenkasse erstattet, wenn die Lehrerin oder der Lehrer neben der Yoga-Ausbildung noch eine pädagogische oder therapeutische vorweisen kann. Yoga ist akzeptiert, wenn es eingebettet ist in andere Heil- und Therapieverfahren. Wer dagegen das authentische Yoga sucht — die unverfälschte indische Spiritualität —, wird enttäuscht: Dieses Yoga ist nicht zu finden. Erst recht nicht in Indien. 

 

Der Yogi »hat nichts dagegen einzuwenden, wenn man das Universum ein Uhrwerk nennt, aber er glaubt, man könne es mit ungefähr demselben Wahrheitsanspruch eine Spieluhr oder einen Fischteich nennen. Er glaubt, dass der Zweck nicht vorausbestimmt werden kann, und dass es allein auf die Mittel ankommt. Gewalt lehnt er unter allen Umständen ab. Er glaubt, dass logisches Begründen in dem Maße seinen Kompass verliert, wie das Denken sich dem magnetischen Pole der Wahrheit oder des Absoluten nähert, auf den allein es an-kommt. Er glaubt, dass durch äußere Organisation gar nichts, durch die Bemühung des einzelnen von innen heraus alles verbessert werden kann, und dass jeder, der an etwas anderes glaubt, ein Weltflüchtling ist. Er glaubt, dass die Schuldknechtschaft, die den Bauern in Indien von den Geldverleihern auferlegt ist, nicht durch Finanzgesetze, sondern durch geistige Mittel abgeschafft werden sollte. Er glaubt, dass jedes Individuum allein ist, verbunden mit dem All-einen wie durch eine Nabelschnur; dass seine schöpferischen Kräfte, seine Güte, Wahrhaftigkeit und Nützlichkeit allein durch den Lebenssaft, welcher ihm durch diese Nabelschnur zufließt, genährt werden können, und dass seine einzige Aufgabe während seines Erdenwallens darin besteht, jede Handlung, Gefühls-regung oder jeden Gedanken, welcher zum Abreißen jener Nabelschnur führen könnte, zu vermeiden. Dies muss dauernd erreicht werden durch eine schwierige, kunstvolle Technik, die einzige, die er gelten lässt.«

 

Schreibt Arthur Koestler in seinem berühmten Essay »Der Yogi und der Kommissar«. Das war 1942, Koestler verarbeitete seine Zeit als Mitglied der kommunistischen Bewegung. Mit dem Kommissar hat er dem kommunistischen Militanten ein Porträt gewidmet, das man sich — keine große Überraschung — komplementär zum Porträt des Yogis vorstellen muss. Koestlers Clou besteht nun darin, nicht etwa ein »echtes« Bild des Yoga-Meisters gegeben zu haben (aber es ist realistisch!): Wie den Kommissar versteht er auch den Yogi als Teil unserer Moderne — die aktivistisch-moralisch-rechthaberische Raserei des Kommissars und die Innerlichkeit des Yogi sind so gegensätzlich wie intim miteinander bekannt, sie treffen sich im Unbedingten, zwei Seiten einer Medaille: der authentische Extremismus des Westens.

 

Aber Yoga muss doch etwas Uraltes sein! Denkt man sich spontan. Ist es aber nicht. Als kanonisierte, kodifizierte Bewegungsabfolge ist es wenig älter als hundert Jahre. Der Spiegel hat das vor wenigen Wochen in einer großen Story noch einmal mit großem Tamtam enthüllt: Schon bei der vielbeschworenen indischen Spiritualität handelt es sich um einen Mischmasch aus religiösen Versatzstücken, die vor 120 Jahren für ein vom Christentum enttäuschtes und von der kapitalistischen Moderne gestresstes Europa maß-ge-schneidert wurden. Yoga war sogar eine Art Re-Import: Es waren Westler, die großen Einfluss -darauf hatten, religiöse Körpertechniken zu einem einheitlichen — gymnastischen — Ausdruck zu bringen. Der Siegeszug des Yoga, erst durch die kalifornische Hippie-Kultur, dann weltweit durch die Esoterik-Szenen bis hin zu den immer noch gestressten Städtern von heute, ist ganz und gar westlich. Auch wenn das Spiegel-Feature einige kuriose Details bringt, dass es etwa ein preußischer Muskelprotz namens Eugen Sandow war, der 1905 auf einer Indienreise die Leute begeisterte und wesentlich an der Erfindung des Yoga beteiligt war, muss man doch einwerfen: nichts Neues! Es ist doch offensichtlich, dass Yoga als Empowerment nichts mit den Entsagungsriten indischer Samnyasins zu tun hat (und das auch niemand ernsthaft will, schließlich geht es hier um eine Haltung, die so radikal ist, dass sie selbst noch Erlösung als Betrug und Täuschung ablehnt — Leben ist Leiden, und die Höchststrafe ist die Wiedergeburt). Auch wenn die sich in Verrenkungen hineinsteigern, auf die wir, die schon beim kleinen Sonnengruß scheitern, neidisch blicken. Ebenso klar ist aber, dass der Selbstbetrug gewollt ist: In der Spiritualität als Überbau oder emotionaler Mehrwert liegt für viele der Reiz. Dass sich diese Spirirtualität auflöst, je näher man hinblickt — es schaut eben nicht fremder zurück, sondern immer vertrauter —, wer will das schon so genau wissen?

 

»Das Ausatmen ist im Yoga etwas aktives, das Aus-atmen soll verlängert werden — die Bauchdecke wird leicht nach innen genommen, und der Atem soll wirklich lange herausströmen. Das Ausatmen ist ein Moment des Loslassen, des Entspannens, damit mit der Einatmung einfach was reinkommen kann, es muss ja Platz da sein. Das Einatmen fängt im Grunde mit dem Ausatmen ein, wenn du richtig ausatmest, dann kommt auch das Einatmen, du musst nicht mehr die Muskeln so einspannen und die Luft gierig in dich hineinsaugen, es kommt von alleine. Dieses Loslassen ist im übertragenen Sinne ein Abgeben-Können, ein Teilen-Können. Und wer teilen kann, kann auch empfangen. Das Atmen ist sehr nah an den Emotionen. In der Körpertherapie gibt es häufig den Moment, wo dir jemand nur die Hand auf den Bauch legt und dich auffordert, dorthin zu atmen. Das ist ein Moment, in dem viele zum ersten Mal nach langer Zeit wieder in Kontakt mit ihren Gefühlen kommen. Und dann fangen sie an zu weinen.«

 

Das sagt Brigitte Sczepan, meine Yoga-Lehrerin. -Sczepan hat in den 80er Jahren Yoga als Aktivistin gelebt, samt Indien-Aufenthalten und einem Yogi, dem sie hinterher gereist ist. Sie hat dann in 90er Jahren ein Pädagogik-Studium absolviert, eine Ausbildung beim Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland (BDY) gemacht und körpertherapeutische Kurse belegt. Ja, die Sache mit dem Atmen — einer der Punkte, der, erzählt man im Yoga-fernen Freundeskreis davon, schnell Spott auf sich zieht. Gibt es etwas Selbstverständlicheres als Atmen? Wer den »Woodstock«-Film gesehen hat, hat auch die Hippies gesehen, die wilde Atemübungen machen, um irgendwie high zu werden. Das sieht albern aus. Und am Ende nehmen sie doch LSD, um high zu werden. Tatsächlich ist der Atem die Schnittstelle zwischen unserem Bewusstsein und unserem vegetativen System — das berüchtigte Körper-Seele-Problem (Wie hängt was miteinander zusammen?), dass die abendländische Philosophie seit den alten Griechen zur Verzweifelung treibt (aber nicht seit den ganz alten — den »Vorsokratikern«, die hatten noch einen Begriff vom Atem): hier fände es seine Auflösung! Der Adorno-Schüler Klaus Neubeck hat das aufgegriffen und sogar eine kritische Theorie des Atmens skizziert (»Atem-Ich. Körperliche Erfahrung, gesellschaftliches Leid und die Heilkraft des inneren Monologs«, dieses Jahr im Stroemfeld Verlag neu aufgelegt): Die Aus-einan-der-setzung mit dem eigenen Atem kann dabei -helfen, Entfremdungserfahrungen inne zu werden. Es geht nicht nur darum, sich einer Erfahrung bewusst zu werden (indem wir über unsere Ängste nachdenken und sie in Bezug zu gesellschaftlichen Zuständen setzen), sondern überhaupt erst diese Erfahrungen körperlich zuzulassen und sie auch aushalten zu können. An diesem Punkt setzt die Atemtherapie an: Wer Angst hat, atmet verkrampft, wer unter dem Gefühl der inneren Leere leidet, atmet sehr flach. Atmen ist alles andere als selbstverständlich. »Viele Menschen bewohnen ihren Körper nicht. Ihr Körper ist da, ihr Bewusstsein ist da, aber es geht nicht zusammen, man steht regelrecht neben sich, eigentlich ein unheim-licher Zustand«, hat Sczepan beoachtet. Yoga ist keine Atemtherapie, aber wer eine gute Lehrerin hat, der lernt — so komisch es sich vielleicht anhören mag —, in die Bewegungen hineinzuatmen. Man dehnt sich nicht nur, man atmet die Dehnung regelrecht. Man empfindet es so, und es ist eine schöne Empfindung, als könne man sich endlos weiterdehnen. 

 

Nein, bitte nicht. Dehnen ohne Muskelmasse ist gefährlich. In den 80er Jahren waren es die Erleuchteten unter den Yogis, die sich ihren Rücken ruinierten, die Knie kaputt machten, die Hüften verschlissen. Jetzt sind es die Lifestyle-Yoga-Freaks, die bei den Extremdehnungen den Kick suchen oder die den Event-Charakter genießen: Zehntausende machen Yoga auf dem Times Square in New York, man kann Yoga an jedem Urlaubsstrand machen, in Hongkong, ganz witzig, ist der Gag der Saison: Yoga mit Hund. Yoga verspricht einen beweglicheren, geschmeidigeren Körper, eine elegantere Art sich zu bewegen, das gehört zum Körperprogramm des modernen Urbanen. Wer aber als übereifriger Schüler auf einen schlecht ausgebildeten Lehrer trifft, der macht sich seine Bänder kaputt. In den USA gibt es mittlerweile einen regelrechten Yoga-Rollback. Jedes Jahr werden Tausende nach ihren Übungseinheiten mit schwerwiegenden Verletzungen in die Notaufnahme eingeliefert. Noch mal zum Mitschreiben: Yoga ist keine Gymnastik und auch keine Therapie, es ist noch nicht mal Sport — man kann es jeweils so einsetzen, sollte dann aber auf ein angemessenes Setting aus begleitenden Maßnahmen achten. Vereinfacht gesagt: Jede Rückbeuge muss durch einen Vorbeuge, eine entspannende Gegenbewegung, ausgeglichen werden. »Mit Yoga wollen wir verhindern, dass wir Nackenprobleme bekommen, aber wir können sie nicht kurieren. Yoga unterstützt einen Heilungsprozesse oder beugt Verletzungen vor. Aber es ist nicht im engeren Sinne Medizin«, meint Sczepan.

 

Und? Der Rücken ist besser geworden. Die Nackenprobleme kommen immer dann wieder, wenn ich für ein paar Monate mit dem Yoga aussetze. Mein Atem ist vermutlich recht flach, aber ich höre besser hin. Erleuchtete und Überzeugungstäterinnen habe ich bis heute keine getroffen, obwohl Köln ein Nest dafür sein soll. Ich kenne Ledernackentypen, für die das King Georg eine Wellness-Oase mit Milchbubis ist, die sich aus eigenem Antrieb bei mir nach Yoga-Kursen erkundigt haben. Ich habe nie wieder einen Hund gesehen, der sich ein Wettrennen mit einem Zug geliefert hat. Die meisten haben wahrscheinlich doch Angst.