Ich töte, also bin ich

In seinem Favela-Epos »City of God« findet Fernando Mereilles einen

eigenen Weg zwischen amerikanischem Gangsterfilm und politisch engagiertem cinema novo. Tobias Nagl erklärte der Regisseur, warum der neue

brasilianische Präsident Lula de Silva um eine Sondervorführung bat.

Wer so kühn beginnt, dem kann es an Selbstvertrauen nicht mangeln. Ein Messer wird gewetzt, ein Huhn geschlachtet und in den Suppentopf einer Straßenküche verfrachtet, Drinks werden zu Samba-Rhythmen gemixt. Fast könnte es sich hier um einen Werbespot handeln, der Armut als authentische Kulisse für irgendein Produkt ausschlachtet, wäre die Sache nicht so makaber und blutig. Nur wenige Einstellungen später geraten die Dinge in »City of God« vollends aus dem Ruder. Ein zweites Huhn befreit sich und flüchtet kopflos umherflatternd vor einem die Straße entlang donnernden Laster, während eine bis an die Zähne bewaffnete Gang johlend die Verfolgung aufgenommen hat. Kurz darauf befindet sich der eigentlich unbeteiligte Erzähler des Films, Buscapé, zwischen den Fronten eines Bandenkriegs. In einer hyperkinetischen Kamerafahrt umzirkelt die Kamera den Hauptdarsteller, und aus diesem Taumel erhebt sich eine vielfach gebrochene Rückblenden-Erzählung.
Was Virtuosität im Einsatz filmischer Mittel, Erzähltempo und politische Intelligenz angeht, sucht »City of God« im heutigen Kino seinesgleichen. Nach dem semidokumentarischen Roman-Bestseller »Cicade de Deus« von Paulo Lins mit Laiendarstellern gedreht, erzählt der ehemalige Werbefilmer Fernando Meirelles eine drei Dekaden umfassende, vor Details und verschachtelten Subplots überbordernde Bandengeschichte, die immer wieder den Vergleich mit Martin Scorseses »GoodFellas« auf sich gezogen hat. Nicht zu unrecht. Selten ist das postmoderne Genrekino bislang so klug für eine Allegorisierung sozialer Ausschlussmechanismen in Beschlag genommen worden.

»Ich kiffe, ich schnupfe, ich habe getötet und gestohlen«

Die »Stadt Gottes« des Films, der in Brasilien sämtliche Kassenrekorde brach, ist eine reale Baracken-Neubausiedlung am Rande Rios. Inmitten von kleinkriminellen Gangs und schießwütigen Kindern wächst in den 60er Jahren dort Buscapé (Alexandre Rodrigues) auf, der davon träumt, einmal Fotograf zu werden. Anfang der 70er Jahre boomt der Handel mit Marihuana, und die ehemaligen Kindergangster Locke (Leandro Firmino da Hora) und Bené (Phelipe Haagensen) wissen das leidlich für sich zu nutzen. Als Ende der 70er Disco die alte Funk- und Samba-Begeisterung ablöst, wird Kokain zum großen Geschäft. Die Gang der beiden setzt sich mit brutalsten Mitteln durch. Erst nachdem sich der eigentlich gutmütige Bené an seinem 18. Geburtstag aus dem Drogengeschäft zurückziehen will, beginnt das Imperium zu bröckeln.
Auf sich alleine gestellt, vergewaltigt der frustrierte Psychopath Locke die Freundin eines Busfahrers und tötet dessen Bruder. Als der Rache schwört, weitet sich die Auseinandersetzung zu Beginn der 80er Jahre zu einem der blutigsten Bandenkriege der brasilianischen Geschichte aus. Die sich anbahnende Apokalypse erleben wir durch Buscapés Kameralinse. Mit Hilfe einiger authentischer Bilder vom Kriegsschauplatz kann er sich als Fotograf etablieren. Als Buscapé das Ghetto verlässt, steht bereits die nächste Generation von bewaffneten Kindern bereit, in die Fußstapfen ihrer Brüder zu treten. »Ich kiffe, ich schnupfe, ich habe getötet und gestohlen«, hatte sich eines von ihnen zuvor gerühmt, »also bin ich ein Mann!«

Interview

StadtRevue: Ihr Film hat einen polierten Look und bedient sich der hyperkinetischen Stilmittel, wie man sie aus aus dem Hongkong-Kino kennt. Sehen Sie Ihren Film als Teil einer neuen Welle im brasilianischen Kino, die das revolutionär politisierte cinema novo der 60er und 70er Jahre abgelöst hat?

Fernando Meirelles: Ich glaube schon, dass ich Teil einer neuen Generation von Regisseuren im brasilianischen Kino bin. Aber ich und ein paar andere wie Beto Brant oder Walter Salles machen noch immer politische Filme. Ich glaube, dieses neue Kino ist politisch, nur eben nicht dogmatisch. Der Unterschied zwischen den großen Filmen der 60er Jahre und unseren Filmen ist einfach, dass unsere etwas publikumsfreundlicher und dialoglastiger sind. Das cinema novo wurde ausschließlich für Intellektuelle, Kritiker und internationale Festivals gemacht. Wir heute haben noch immer dieselben Themen: sozialer Ausschluss und die großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Brasilien.

Ist diese kommerziellere Orientierung ein Indikator für eine veränderte politische Situation?

Als mein Film in Brasilien herauskam, sagten viele Kritiker, er sei zu stylish und zu kommerziell. Es sei ein Film, mit dem man fantastisch Popcorn verkaufen könne. Aber nach einigen Wochen und Monaten haben wir genau das Gegenteil erlebt. Kein anderer Film in den letzten 20 Jahren hat so viele Kritiken und Diskussionen im Fernsehen, in den Gewerkschaften und Universitäten provoziert. Selbst die Präsidentschaftskandiaten befassten sich damit. Der jetzige linke Präsident, Ex-Gewerkschaftsführer Lula da Silva, hat den Film gesehen, bevor er herauskam – und er redete in seinen Ansprachen darüber. Auch unser damaliger Präsident Fernando Henrique Cardosa bat uns, nach Brasilia zu kommen und ihm den Film zu zeigen. Der Film wanderte so aus dem Feuilleton in die Politressorts. Demnächst plant die Regierung eine große Veranstaltung in der Cicade de Deus. Vier Minister, drei Sekretäre des Bundesstaats Rio de Janeiro und der Bürgermeister von Rio haben ein wirklich weit reichende Sanierungsprogramm für die Slums verabschiedet. Ich bin mir ganz sicher, dass sie sich die Cicade de Deus wegen meines Films ausgesucht haben.

Worin liegt die symbolische Bedeutung von »City of God«?

»City of God« wurde zum Symbol für all das, was sich in Brasilien ändern muss. Ich bin sicher, dass in vier oder fünf Jahren die Kriminalitätsrate in der Cicade de Deus niedriger sein wird. Die Regierung versucht seit jeher, den Drogenhandel zu bekämpfen. Es ist aber immer dasselbe. Die Polizei wird besser ausgestattet, neue Helikopter und Waffen angeschafft. Das sind aber alles nur neue Mittel der staatlichen Repression. Zum ersten Mal in der brasilianischen Geschichte wird nun aber versucht, nicht in den sozialen Ausschluss, sondern in Integration zu investieren, in Schulen, Sportzentren, Kulturzentren, Arbeit. Wenn ich meinen Film im dokumentarischen Stil der 60er Jahre gedreht hätte, wäre all das nicht passiert und nur 50.000 Leute hätten sich ihn angeschaut. Dann wäre ich nicht hier, um mit Ihnen zu sprechen. Gar nichts wäre dann passiert.

Ihr Film zeigt sehr genau, wie der Drogenhandel auf der Ebene der Straße abläuft. Die großen Profiteure bleiben aber im Dunkeln.

Wahrscheinlich kriegt jemand wie Locke sein Kokain von jemandem, der gute Verbindungen nach Kolumbien hat. Das wäre dann die Story, wer dahinter steckt. Der Blickpunkt meines Films ist aber der von jemandem, der in einer Gegend aufgewachsen ist, in der Dealer und Dealen zum Alltag gehören. Er erzählt, was er sieht. Aus dem Grund zeigen wir zum Beispiel auch nicht, wie die Polizei mit Drogen dealt – was sie ja tut. Oder wie die Regierung am Drogenhandel verdient. Oder wie die Mittelschicht daran beteiligt ist. Aber man kann auch über die Hintergründe sprechen: »Traffic« von Steven Soderbergh macht das zum Beispiel auf eine ziemlich brilliante Art und Weise.

Brasilien rühmt sich für sein historisches Ideal der »Rassen«-Vermischung, schon der bloße Begriff Rassimus ist tabu. Dennoch ist der gesellschaftliche Reichtum deutlich entlang einer color line verteilt. Hat das ihr Casting beinflusst?

Ja, es gibt in Brasilien ein ausgeprägtes Mulatto-Ideal. Ich habe eigentlich nur eine Entscheidung getroffen, die den Rassismus betrifft. Buscapé habe ich schwarz gecastet, obwohl er im Roman eigentlich weiß ist. Wäre ich dabei geblieben, dann hätte ich damit den Film komplett versaut. Stellen Sie sich das mal vor: Alle Bösen im Film wären schwarz, und die einzige positive Figur weiß! Alle anderen Darsteller habe ich aber gecastet, weil sie für bestimmte Rollen passten. Der echte Locke war ein Mulatto, aber das war für mich kein Thema. Ich glaube nicht, dass wir in Brasilien so einen Rassismus haben wie in anderen Ländern. Es gibt natürlich Vorurteile, aber das sind soziale Vorurteile. Diskriminiert wird man nicht, weil man schwarz ist, sondern weil man arm und ohne Schulbildung ist.

City of God (Cidade de Deus) BRA 02, R: Fernando Meirelles, D: Matheus Nachtergaele, Seu Jorge, Alexandre Rodrigues, 130 Min. Start: 8.5. Preview: 2.5., 21 Uhr, Off Broadway.