Serie: Zukunft der Arbeit. Folge 3

»Ne Travaillez Jamais!«

»Was machen Sie denn eigentlich?« Wer so gefragt wird, reagiert in der Regel reflexhaft mit der Nennung seines Arbeitsplatzes, insofern sie oder er einen hat. Niemand käme auf die Idee, sein Hobby zu nennen. Die ausgeübte Erwerbsarbeit wird als wesentliches Persönlichkeitsmerkmal aufgefasst, und wer keinen Job hat, hat daher nicht nur finanzielle Probleme, sondern in unserer Arbeitsgesellschaft auch kein anerkanntes Identitätsmodell. Die psychische Belastung Arbeitsloser ist meist ebenso gewichtig wie die finanziellen Probleme.
Trotz zeitweilig erfolgreicher Modelle der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, ist das grundsätzliche Paradox nicht zu übersehen: In den Industrienationen macht der technologische Fortschritt immer mehr Arbeitsplätze überflüssig und ermöglicht eigentlich dadurch immer mehr selbstbestimmte Zeit, und trotzdem nimmt das Elend zu. Immer mehr Arbeitsplätze werden benötigt, weil sich nach herrschender Denkweise nicht anders Armut und Verelendung beheben lassen. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt sich nahezu jede Unternehmung dadurch, dass sie angeblich Arbeitsplätze schafft.
Was aber ist, wenn man unsere Arbeitsgesellschaft und die Axiome, auf denen dieses System der Arbeit aufbaut, in Frage stellt?
Der folgende Text unserer Serie »Zukunft der Arbeit« geht dieser Frage nach: Felix Klopotek zeigt in einem geschichtlichen Rückblick, dass die sozialen Kämpfe der Arbeiter nicht nur Kämpfe um Lohnerhöhungen waren, sondern sich auch gegen das System der Arbeit selbst richteten. Das Bewusstsein, dass das bessere Leben jenseits der Arbeit liegt, war in den großen sozialen Auseinandersetzungen immer vorhanden.

Laboratorium Italien

Italien war, vielleicht stärker noch als Deutschland, das Wirtschaftswunderland der Nachkriegszeit. Millionen Menschen zogen aus dem agrarwirtschaftlich geprägten und in jeder Beziehung rückständigen Süden in den reichen Norden mit seinen Industriezentren um Turin, Mailand, Trient oder Genua. Der Begriff »Migration« bezeichnet in Italien weniger den Zuzug von Ausländern als vielmehr die Wanderungsbewegung im eigenen Land. Die Süditaliener arbeiteten im Norden bei Fiat, Olivetti, Alfa Romeo, Pirelli oder im Hafen von Genua. Alles hatte seine Ordnung. Die Wirtschaft wuchs, die mächtige kommunistische Partei setzte regelmäßige Lohnsteigerungen durch und garantierte im Gegenzug den sozialen Frieden. Anfang der 60er Jahre wurde in Italien nicht gestreikt. Es schien, als ob die Kommunisten eine riesige Serviceagentur der Sozialpartnerschaft betrieben.
1966 aber knallte es: Jugendliche Arbeiter lieferten sich scheinbar völlig unmotiviert mehrtägige Straßenschlachten mit der Polizei, wilde Streiks brachen aus. Die Unruhen wuchsen sich zu Aufständen aus und griffen auf die Arbeiterstadtteile über. Fabriken und Mietskasernen wurden besetzt, Mieterstreiks wurden organisiert, es gab sogar eine Gruppe, die den revolutionären Bankraub erfolgreich betrieb. Die staatstragenden Kommunisten standen vor einem Scherbenhaufen: Übertriebene Lohnforderungen waren nur der Anlass der Kämpfe. Auf die hohe Kunst der Tarifverhandlung pfiffen die Aufständigen. »Vogliamo tutto!« – »Wir wollen alles!« war ihr wirklicher Schlachtruf. Das hieß konkret: Nie wieder in die Fabrik, nie wieder ans Fließband, nie wieder in schäbigen Vierteln hausen, nie wieder sich in Schulen demütigen lassen. Die Kämpfe in Italien zwischen 1966 und 1978 waren Kämpfe gegen die Arbeit. Der Staat und sein Wirtschaftssystem standen auf der Kippe. Zur gleichen Zeit, im Mai 1968, befand sich auch Frankreich im Ausnahmezustand: Studenten besetzten die Sorbonne, die Arbeiter traten in einen wilden Generalstreik. In Paris wird die Parole gesprüht: »Ne travaillez jamais!« – »Nie wieder arbeiten!«.

Arbeitssucht? Arbeitsverweigerung!

Holger Heide hat im Rahmen unserer Serie »Zukunft der Arbeit« das Phänomen der Arbeitssucht beschrieben (StadtRevue 04/03). Er stellte sich die Frage, was die Menschen zur Arbeit drängt, wo doch die Geschichte zeigt, dass über Jahrhunderte die Menschen die Arbeit gescheut haben, ihr aus dem Weg gingen, wo es ihnen möglich war. Seine zentrale These ist, dass die heutige »Arbeitsgesellschaft ein posttraumatisches Syndrom (ist). Die Angst, die sie zusammenhält, ist Folge von Jahrhunderten der gewalttätigen Durchsetzung des verallgemeinerten Zwangs zur Arbeit im Zuge der Unterwerfung der Menschen unter das Kapital.« Der Ausdruck dieses posttraumatischen Syndroms ist demnach die Arbeitssucht.
Heides These ist bestechend und auch historisch fundiert. Trotzdem weist sie Schwächen auf: Wie kommt es, dass Menschen sich plötzlich kollektiv gegen die Arbeit zu Wehr setzen und damit eine fatale »Logik der Geschichte« auf den Kopf stellen?
Es stimmt, es gibt Formen der Traumatisierung, die über Generationen hinweg das Leben derjenigen prägen, die die Ursachen der Traumatisierungen nicht selbst erlebt haben. Die Traumatisierung ist aber kein unentrinnbares Schicksal. Die Geschichte der Streiks und Arbeiterkämpfe ist immer auch von dem Moment der Arbeitsverweigerung und dem Hass auf das Fabriksystem geprägt. Wie ein roter Faden ziehen sich die theoretischen wie praktischen Dokumente der Arbeitsverweigerung und des Müßigganges durch die Geschichte der sozialen Kämpfe.
Es spricht einiges dafür, dass es nicht den Urknall des traumatisierenden Arbeitszwanges gab. Der Kapitalismus ist eben nicht nur ein repressives System. Er beruht – zumindest in Europa – auch auf Partizipation, der politischen Anerkennung der Arbeiter als Interessensgruppe mit legitimen Forderungen. Die Verhältnisse, in denen produziert und also gearbeitet wird, konstituieren sich immer wieder neu. Sie sind krisenanfällig und instabil. Es entstehen Brüche, aus denen heraus sich ein radikaler Unmut, eine generelle Ablehnung artikulieren kann. Der Logik des Arbeitszwanges steht die Logik der Kämpfe gegenüber.

Arbeit als Autonomie: Die Falle

»Arbeit ist des Bürgers Zierde/ Segen ist der Mühe Preis/ Ehrt den König seine Würde/ Ehret uns der Hände Fleiß«, so Friedrich Schiller in seinen berühmten »Lied von der Glocke« (1799). Schiller spricht den Glück verheißenden Aspekt des beginnenden Kapitalismus aus: Der Adel ist faul, dekadent und parasitär – und steht eigentlich mit leeren Händen dar. Ihm bleibt nur die Würde. Uns, dem dritten Stand, bleibt die Arbeit, die Produktivität, das wahre Schöpferische. Wir erwirtschaften unseren Reichtum selbst, es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Adel verrottet ist. Arbeit ist hier noch bedeutend mit Autonomie.
An diesem stolzen Bild partizipierte auch der vierte Stand – die Arbeiterklasse. Im 19. Jahrhundert war es für Ökonomen eine Selbstverständlichkeit davon auszugehen, dass allein Arbeit Wert schafft. Wenn dem so ist, so folgerten die alten Gewerkschafter, dann ist es nur legitim (und rechnerisch möglich), für die geleistete Arbeit einen gerechten Lohn zu bestimmen. Hier schnappt die Falle zu: Die Vorstellung eines gerechten Lohns läuft letztlich auf das Ideal eines fairen Tauschs – Arbeitskraft gegen Geld – hinaus und akzeptiert die Spielregeln der bürgerlichen Gesellschaft. Für Karl Marx, den radikalen Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, standen im Mittelpunkt seines heftigsten Spottes nicht das Bürgertum, sondern eben jene Arbeiterführer.

Arbeit als Aubeutung: Die Realität

»Alle Arbeit erscheint als bezahlte Arbeit«, schreibt Marx im »Kapital«. »Die Form des Arbeitslohnes löscht jede Spur der Teilung des Arbeitstages in notwendige Arbeit (die der physischen Reproduktion des Arbeiters dient, F.K.) und Mehrarbeit (die der Reproduktion des Kapitalismus dient, F.K.), in bezahlte und unbezahlte Arbeit aus.« Auf der politisch-rechtlichen Oberfläche erscheint die moderne Arbeitsgesellschaft als »ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte«, unter der Oberfläche aber wütet die Höllenmaschine: »Die Arbeit produziert Wunderwerke für die Reichen, aber sie produziert Entblößung für den Arbeiter«, erkennt schon der junge Marx. Und weiter: »Sie produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter. Sie ersetzt die Arbeit durch Maschinen, aber sie wirft einen Teil der Arbeiter zu einer barbarischen Arbeit zurück und macht den anderen Teil zur Maschine. Sie produziert Geist, aber sie produziert Blödsinn, Kretinismus für den Arbeiter.«
Es ist daher kein Wunder, dass die Lohnpolitik der Gewerkschaften, die heutzutage »Stärkung der Kaufkraft« heißt, immer um eine Leerstelle kreiste und regelmäßig auf Widerspruch der Arbeiter traf. Kaum ein Arbeitskampf, in dem es über die Lohnforderung hinaus nicht auch um qualitative Inhalte ging: Verkürzung der Arbeitszeit, Mitbestimmung und schließlich Selbstverwaltung.

Paul Lafargue

Und es ist kein Wunder, dass sich Marxens Spott weiter vererbte. Vielleicht am genialsten bei seinem Schwiegersohn Paul Lafargue, der 1880 seine Schrift »Das Recht auf Faulheit« – »eine Widerlegung des Rechts auf Arbeit« – veröffentlichte: »In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Arbeit die Ursache des geistigen Verkommens und körperlicher Verunstaltung.« Der Begriff der Arbeitssucht geht auf ihn zurück: »Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen kapitalistische Zivilisation herrscht. Diese Sucht, die Einzel- und Massenelend zur Folge hat, quält die traurige Menschheit seit zwei Jahrhunderten. Diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit.«
Blickt man auf die aktuelle Gewerkschaftspolitik, die immer noch einem Ideal der Vollbeschäftigung hinterher hechelt, kommt es einem vor, als wäre Lafargue Zeitgenosse: »Statt in Zeiten der Krisis eine Verteilung der Produkte und allgemeine Belustigung zu verlangen, rennen sich die Arbeiter vor den Türen der Fabriken die Köpfe ein. Mit eingefallenen Wangen, abgemagertem Körper überlaufen sie die Fabrikanten mit kläglichen Ansprachen: ›Lieber Herr Chagot, bester Herr Schneider, geben Sie uns doch Arbeit, es ist nicht der Hunger, der uns plagt, sondern die Liebe zur Arbeit.‹ «
Lafargues Polemik wurde als Satire gelesen, sein Bemühen, »das Proletariat zu überzeugen, dass die Parole, die man ihm eingeimpft hat, pervers ist« und dass der Arbeitstag nur als ein Drei-Stunden-Tag erträglich sei, wurde nicht ernst genommen.

Als Avantgarde und Proletariat zueinander fanden ...

In den Dokumenten der Boheme um die Jahrhundertwende, den Aktionen der Dadaisten und Surrealisten in den 20er und 30er Jahren lebte der Spott Lafargues weiter. In den spontanen Streiks und Kämpfen der Arbeiter blitzte der Wunsch nach einem Ende des Arbeitssystems immer wieder auf – ohne dass es zu irgendeiner substantiellen Annäherung zwischen (künstlerischer) Avantgarde und Proletariat gekommen wäre. Den Platz dazwischen füllten die großen Arbeiterparteien, die, egal, ob sie sich sozialdemokratisch oder kommunistisch nannten, das Recht auf Arbeit verewigen wollten. Und auch auf friedlich-parlamentarischem Wege durchsetzen konnten, so schien es in der Zeit nach 1945.
Bis die Arbeiter Italiens und Frankreichs das System der Sozialpartnerschaft und damit den Staat an den Rand des Abgrundes brachten und sich explizit die Parolen der Bohemezirkel zu eigen machten: »Ne travaillez jamais!« war eigentlich der Schreckensruf der Situationistischen Internationale, einer zwar legendären, aber eigentlich recht kleinen (Anti-) Künstleravantgarde.

Kampf gegen Arbeit als Kampf für Arbeit

Im Nachhinein stellen sich die Kämpfe – besonders die italienischen – als Strukturanpassungskrise heraus. Die Süditaliener kannten aus ihrer ländlichen Heimat einen anderen Arbeitsrhythmus und waren nun mit dem starren Fließbandtakt konfrontiert. Sie litten als minderqualifizierte Massenarbeiter unter den Schikanen der Facharbeiter. Irgendwann explodierte die Mischung.
Nach 1968 ging die Staatsmacht zur offenen Repression über, die radikale Linke reagierte mit der Bildung von Stadtguerillagruppen (die Roten Brigaden). Die Bewegung der Fabrikbesetzungen lief sich 1973 tot. Das war der Zeitpunkt, an dem die autonomen (nicht Partei-gebundenen) Kommunisten die Parole ausgaben: »Die Revolution ist vorbei. Wie haben gesiegt!« Es begann der Aufbau von selbstverwalteten Strukturen und alternativen Betrieben, selbstverständlich im Besitz der Mitarbeiter. Mitten im Kapitalismus wurde der sofortige Ausstieg aus demselbigen propagiert.
Nach 1978 kam die Repressionswelle des Staates zu einem Ende, der politische Flügel der Autonomie-Bewegung war zerschlagen und saß im Knast. Heute ist Norditalien eine der reichsten Gegenden Europas – hoch technologisiert und flexibilisiert. Fabriken im klassischen Stil findet man immer weniger, dafür zig Tausende von kleinen Klitschen, die untereinander perfekt vernetzt sind. Benetton ist das Musterbeispiel einer Firma, die scheinbar gar nicht existiert, sondern sich in unzähligen eigenverantwortlich agierenden Subunternehmen materialisiert.
Das ist der reale Alptraum der italienischen 68er. Denn dieser italienische Norden ist das ökonomische Ergebnis der Autonomie-Bewegung: die selbstverwalteten Betriebe als Motoren einer hyperbeschleunigten kapitalistischen Entwicklung; die alten Fabrikbesetzer als visionäre Unternehmer; Benetton als Schlusskapitel eines der heftigsten Klassenkämpfe der Nachkriegszeit.
Diskreditiert der heutige Zustand die Kämpfe von damals? Wohl kaum, es hätte auch in die andere Richtung gehen können: »Laßt uns faul in allen Sachen/ Nur nicht faul zu Lieb’ und Wein/ Nur nicht faul zur Faulheit sein.« (Gotthold Ephraim Lessing)
Die Aufstände von einst demonstrieren aber auch, dass selbst der Kampf gegen Arbeit zu einem Kampf für Arbeit mutieren kann.

Literatur:

Das Standardwerk zu den italienischen Kämpfen ist vor kurzem wieder aufgelegt worden: Nanni Balestrini und Primo Moroni: »Die goldene Horde: Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien«, Verlag Assoziation A, 415 Seiten, 24 Euro.
Der Klassiker von Paul Lafargue, »Das Recht auf Faulheit«,
ist ebenfalls erhältlich, Europäische Verlagsanstalt, 77 Seiten, 12,70 Euro.
Ausführliches von Karl Marx zu dem Thema findet sich in »Ökonomische Manuskripte 1857/1858«, Karl Dietz Verlag, 960 Seiten, 14,90 Euro.
Die älteren Texte aus der Serie »Zukunft der Arbeit«, Holger Schatz »Arbeiten, um weiterarbeiten zu müssen« und Holger Heide »Arbeiten, um nicht zu fühlen«, stehen auf unserer Webpage, www.stadtrevue.de