Schrecken und übermächtige Furcht?

Immanuel Wallerstein über die Folgen des Irak-Kriegs

Autoreninfo

Immanuel Wallerstein, 1930 geboren, ist Professor für Soziologie und Direktor des Fernand Braudel Center for the Study of Economies, Historical Systems and Civilizations an der Binghamton University, New York, tätig. Bekannt wurde er durch sein mehrbändiges Werk »Das moderne Weltsystem«, von dem bislang zwei Bände ins Deutsche übersetzt sind: »Kapitalistische Landwirtschaft und die Entstehung der europäischen Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert« und »Der Merkantilismus. Europa zwischen 1600 und 1750«. In diesem Werk
befasst er sich mit Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus als Weltsystem. Seine
zentrale These ist, dass der Kapitalismus ein »historischer Kapitalismus« ist: Der heutige
Kapitalismus besitzt eine Struktur, die nicht bloß aus einer immanenten Logik heraus zu
erklären ist, sondern auch und vor allem aus ihrer historischen Genese.
Wallersteins Werke wurden in 20 Sprachen übersetzt. In seinem zuletzt erschienenen Buch »Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhundert« (alle Bücher: Promedia Verlag, Wien) stellt er Überlegungen an, wie der historische Kapitalismus, der in einer tiefen, womöglich finalen Krise steckt, überwunden werden kann. Wallerstein versteht seine Wissenschaft
immer auch als systemkritische.
Auf fbc.binghamton.edu/commentr.htm veröffentlicht er alle zwei Wochen Kommentare zum aktuellen Weltgeschehen und bietet sie zur Vervielfältigung und Übersetzung an. »Schrecken und übermächtige Furcht?« ist Kommentar Nr. 111 und stammt vom 15. April.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors, aus dem Amerikanischen übersetzt von Daniel Recklinghausen.

Die amerikanischen Falken

Die amerikanischen Falken haben uns »Schrecken und übermächtige Furcht« (»Shock and Awe«) versprochen. Konnten sie das einlösen? Sie nehmen es an. Wem jedoch waren Furcht und Schrecken zugedacht? Ganz unmittelbar dem irakischen Regime und denen, die es von innen her unterstützten. Im militärischen Sinn haben die Vereinigten Staaten den Krieg recht zügig gewonnen, und diejenigen unter uns, die einen langen, schwierig zu führenden Krieg für wahrscheinlicher gehalten hatten – zahlreiche Militärs, aber auch ich selbst –, sind widerlegt. Der vergleichsweise schnelle Sieg entzieht jedoch der Unterstellung der Falken den Boden, das irakische Regime habe eine ernsthafte Bedrohung für irgendjemanden dargestellt. Das sollte festgehalten werden.
Folgt hieraus, dass wir, die den Krieg als Wahnsinn betrachtet haben, auch sonst überall Unrecht hatten? Das glaube ich nicht. Mein Artikel vom Juli/August 2002 in Foreign Policy beginnt mit den folgenden Sätzen: »Niedergang der Vereinigten Staaten? Nur wenige würden dieser Darstellung heute Glauben schenken. Beteuert wird sie einzig von den amerikanischen Falken, die stimmgewaltig einer Politik das Wort reden, die dem Niedergang entgegenwirken soll.« Die Falken glauben nun, sie hätten hierin Erfolg gehabt. Vor aufgeblasener Selbstgewissheit heben sie vom Boden ab. Es scheint, als hätten sie Napoleons Motto »L’audace, l’audace, toujours l’audace« * übernommen. Das Motto war Napoleon dienlich – eine Zeit lang.



Die Falken haben nicht einmal das Ende der Kampfhandlungen abgewartet, bevor sie eine Kampagne gegen Syrien in Bewegung setzten. Ausgewählt wurde das Land unter anderem, weil es den USA gegenüber keine freundliche politische Haltung einnimmt, weil es eine Schlüsselrolle im Mittleren Osten spielt und weil es in militärischer Hinsicht praktisch hilflos ist. Da sie Massenvernichtungswaffen im Irak bisher nicht gefunden hat, meint die Regierung der Vereinigten Staaten jetzt, dass sie möglicherweise in Syrien zu finden sind. Rumsfeld hat Syrien als »Schurkenstaat« bezeichnet. Präsident Bush erteilt den Syrern unkomplizierten Rat: Sie sollen mit den Vereinigten Staaten kooperieren.

Wer ist nach dem Irak an der Reihe

Da sie nun von Afghanistan zum Irak weitergezogen sind, ohne vor dem Abzug mehr bewerkstelligt zu haben als den Umsturz des ehemaligen Regimes und die Übergabe der Macht an eine Reihe einheimischer Warlords, so stellt sich, was die Vereinigten Staaten betrifft, eine Frage: Werden sie im Irak jetzt dasselbe tun und weiterziehen? Durchaus möglich. Und wenn Syrien als nächstes auf der Liste steht: Was kommt danach? Palästina und Saudi Arabien oder Nordkorea und der Iran? Zweifellos wird in den inneren Beratungszirkeln des US-Regimes gerade jetzt über Prioritäten heftig gestritten. Außer Frage scheint jedoch zu stehen, dass sich die Vereinigten Staaten nunmehr weitere militärische Drohungen vornehmen. Die Kräfte des Regimes scheinen überzeugt davon, dass sie die Zukunft der Welt in ihren Händen halten und dass das so auch ganz in Ordnung ist. Was die Weisheit ihrer Vorgehensweise betrifft, so haben sie nicht einmal eine Andeutung von Demut gezeigt. Wie viel Soldaten hat denn der Papst ? – um Stalins berühmten Spruch zu zitieren.

Die Prioritäten der amerikanischen Falken

Gleichwohl sollte man den Blick auf die Prioritäten richten, die diese Kräfte anscheinend gesetzt haben. Ganz vorne dürfte die Neuordnung des Mittleren Ostens stehen. Sie enthält drei Schlüsselelemente: zum einen die Beseitigung feindseliger Regime, dann das Aushöhlen der Macht Saudi-Arabiens und vielleicht auch seiner territorialen Integrität. Schließlich geht es darum, den Palästinensern eine Lösung aufzuzwingen, indem man ihnen die Zustimmung zu einem Bantustan ** abringt. Eben deswegen wurde Syrien sofort als neue »Bedrohung« für die Sicherheit der Vereinigten Staaten zum Thema gemacht.
Solange die Reorganisation des Mittleren Ostens andauert, würden – so glaube ich – die Vereinigten Staaten es vorziehen, die Lage in Ostasien einzufrieren. Unverzügliches militärisches Vorgehen birgt Gefahren, und die Falken möchten die Dienste Chinas nutzen, um die Nordkoreaner von der Notwendigkeit des Innehaltens auf ihrem nuklearen Aneignungsfeldzug zu überzeugen. So etwas darf vielleicht als vorübergehender Waffenstillstand betrachtet werden. Eine Waffenruhe dieses Zuschnitts würde den US-Falken Zeit geben, sich zunächst mit anderen Angelegenheiten zu beschäftigen und erst später mit Nordkorea, wenn sie größere Handlungsfreiheit gewonnen haben. Denn es liegt keinesfalls in ihrer Absicht, dem nordkoreanischen Regime das Überleben zu gestatten.
Ich vermute, dass die Heimatfront Priorität Nummer zwei bildet. Die Falken möchten das Regierungsbudget der Vereinigten Staaten so zurichten, dass darin außer militärischen Ausgaben nichts Platz hat. Sie werden an allen Entscheidungsfronten vorstoßen, um andere Ausgaben zu beschneiden, indem sie Bundessteuern vermindern und bei der staatlichen Krankenversicherung sowie bei den anderen Sozialversicherungen so viel wie möglich privatisieren. Sie wollen auch die Freiheit der Opposition zur Meinungsäußerung einschränken, damit sie sich weniger Rücksichten beim Umgang mit dem Rest der Welt auferlegen müssen und um sich den fortdauernden Zugriff auf die Macht zu sichern. Unmittelbar geht es darum, dem so genannten Patriot Act – einem »Vaterländischen Gesetz«, das einer Klausel entsprechend in drei Jahren auslaufen wird – dauerhaften Bestand zu geben. Bisher wurde dieses Gesetz in erster Linie gegen Personen mit arabischem oder moslemischem Hintergrund eingesetzt. Es ist jedoch zu erwarten, dass die Bundesbehörden seinen Anwendungsbereich stetig ausweiten werden. An beiden Fronten kommt den Wahlen im Jahr 2004 entscheidende Bedeutung zu.
Europa nimmt unter den Prioritäten wahrscheinlich den dritten Rang ein. Den Falken erscheint es schwieriger, Europa das Rückgrat zu brechen als dem Mittleren Osten oder der US-amerikanischen Opposition. Also werden sie vermutlich ein bisschen warten. Inzwischen rechnen sie damit, hinreichend Furcht und Schrecken zu verbreiten, um die Willenskraft der Europäer endgültig zu schwächen. Soweit sie Zeit übrig haben, werden die US-Falken möglicherweise die Entsendung von Truppen nach Kolumbien verlangen, neue Überlegungen zu einer Invasion Kubas anstellen, rund um den Globus ihre Muskeln auf andere Art spielen lassen.

Das Ende der realen Macht?!

Man muss es ihnen lassen: Die US-Falken denken in großen Maßstäben. L’audace, l’audace, toujours l’audace. In dem oben erwähnten Artikel in Foreign Policy habe ich erklärt: »Die Vereinigten Staaten sind heute eine Supermacht, der es an realer Macht gebricht, eine Welt-Führungsmacht, der niemand folgt und die von wenigen geachtet wird, eine Nation, die gefahrenträchtig herumrudert inmitten eines Chaos von globalem Zuschnitt, das sie nicht zu steuern vermag.« Ich bekräftige diese Einschätzung heute, insbesondere im Licht der Eroberung des Irak durch die USA. Meine Ansicht gründet sich auf die Überzeugung, dass der Niedergang der Vereinigten Staaten im Weltsystem von struktureller und nicht konjunkturbedingter Art ist. Er lässt sich nicht umkehren. Gewiss – er könnte intelligent verwaltet werden, aber gerade dies geschieht gegenwärtig nicht.

Komponenten des strukturellen Niederganges

Der strukturelle Niedergang hat zwei wesentliche Komponenten. Die eine ist ökonomischer, die andere politisch-kultureller Natur. Die ökonomische Komponente stellt sich ganz einfach dar. Was die Basiskapazitäten betrifft – verfügbares Kapital, Fertigkeiten der Arbeitskraft, Forschung und Entwicklung – können Europa und Japan/Ostasien mit den Vereinigten Staaten konkurrieren. Die monetäre Vormachtstellung Amerikas mit dem Dollar als Reserve-Währung verliert an Bedeutung und wird vermutlich schon bald der Vergangenheit angehören. Die vorteilhafte Lage, derer sich die Vereinigten Staaten in der militärischen Sphäre erfreuen, übersetzt sich langfristig in wirtschaftliche Nachteile, denn sie lenkt Kapital und Innovationen in einen Bereich abseits der produktiven Unternehmungen. Wenn die Weltwirtschaft beginnt, sich von ihrer schon recht lang anhaltenden Stagnation zu erholen, ist es durchaus wahrscheinlich, dass europäische sowie japanische und andere ostasiatische Unternehmen erfolgreicher wirtschaften werden als Unternehmen in den Vereinigten Staaten.

Wuchernde Krebsgeschwüre

Amerika hat den schleichenden Niedergang, in dem es sich im Vergleich mit seinen Hauptkonkurrenten befindet, 30 Jahre lang mit politisch-kulturellen Mitteln abbremsen können. Den Anspruch hierauf hat es auf eine überkommene Legitimierung gestützt – als Führungsmacht der Freien Welt – sowie auf den fortdauernden Bestand der Sowjetunion. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat diese Ansprüche weitgehend ausgehöhlt und zugleich die wachsende Anarchie des Weltsystems von der Koppel gelassen: »ethnische« Kriege im vormalig sowjetischen Machtbereich, Bürgerkriege in mehreren afrikanischen Staaten, die zwei Golfkriege, das ausgreifende Krebsgeschwür des kolumbianischen Bürgerkriegs, die schwere wirtschaftliche Rezession in einer Reihe von Staaten der Dritten Welt.
Unter Reagan, George Bush senior und Clinton standen die Vereinigten Staaten ununterbrochen in Verhandlungen mit Westeuropa und Japan/Ostasien, um alle mehr oder minder auf der selben Seite in Auseinandersetzungen zu halten, die im Wesentlichen den Charakter von Nord-Süd-Konflikten hatten. Die Falken unter George Bush junior haben diese Strategie zum alten Eisen geworfen und einseitigen Machismo zur Richtschnur gemacht. An allen Enden der Welt sind die Leute auf den Beinen. Der Sieg der Vereinigten Staaten über Saddam wird ihre Gereiztheit weiter steigern, und dies nicht, obwohl der Schrecken ihnen in den Gliedern steckt, sondern eben deswegen.

Legitimität

Was die Legitimität betrifft, ist zweierlei zu beachten: Erstens mussten im März die Vereinigten Staaten im UNO-Sicherheitsrat einen Resolutionsentwurf zurückziehen. Die Angelegenheit hatte massive Bedeutung für die USA. Sie haben alles eingesetzt, was ihnen zur Verfügung stand, einschließlich wiederholter Anrufe von George Bush bei führenden Politikern rund um die Welt. Zum ersten Mal seit 50 Jahren haben die Vereinigten Staaten im Sicherheitsrat keine einfache Neun-Stimmen-Mehrheit gewinnen können. Das bedeutete Demütigung.
Zweitens fällt der Gebrauch der Bezeichnung »imperial« ins Auge. Von Imperialismus zu reden, war bis vor zwei Jahren das Vorrecht der weltweiten Linken. Über Nacht setzte bei den Falken der Gebrauch des Worts mit positiver Konnotation ein. Und schon gingen Westeuropäer, die durchaus nicht auf der Linken beheimatet waren, zum Gebrauch des Begriffs über und befürchteten, dass die Vereinigten Staaten sich imperialistisch verhielten. Seit dem Sturz Saddam Husseins findet sich das Wort in jedem zweiten Nachrichtenkommentar. Der Begriff »Imperial(ismus)« negiert die Legitimation – auch dann, wenn Falken es für clever halten, ihn zu benutzen.
Zu keiner Zeit der Weltgeschichte hat militärische Macht allein ausgereicht, um Überlegenheit zu sichern. Entscheidend ist Legitimität – oder wenigstens eine Legitimierung, die in signifikanten Teilen der Welt Anerkennung findet. Die US-Falken haben den Anspruch der Vereinigten Staaten auf Legitimität ihres Handelns von Grund auf geschädigt. In der geopolitischen Arena haben sie damit die USA irreparabel geschwächt.

* Heißt soviel wie »Kühnheit, nochmal Kühnheit, immer Kühnheit!«
** Homeland nach südafrikanischem Muster