»Jeder Mensch weiß, was richtig und was falsch ist«

Aus tödlichem Ernst wird enthüllendes Spiel: Joshua Oppenheimer über »The Act of Killing«, seine einzigartige Aufarbeitung und Re-Inszenierung eines Genozids

Unter der Militärdiktatur in Indonesien wurden allein 1965/66 bis zu einer Million angeblicher Kommunisten ermordet. Ursprünglich hatten sie eine Dokumentation über die Überlebenden geplant. Warum hat sich ihr Fokus auf die Täter verschoben? Wir wurden immer wieder durch die Armee daran gehindert, mit den Überlebenden zu drehen. Ihnen war verboten, über die Massaker zu sprechen. Also begannen wir, die Täter zu interviewen, die in denselben Dörfern neben den Familien ihrer Opfer lebten. Vor ihren Frauen, Kindern und Enkeln erzählten sie unverhohlen von ihren Morden. Grauenhaft detailliert und prahlerisch. Ich war zutiefst entsetzt und begriff: Es ging nicht länger nur um die Vergangenheit, sondern darum, wie diese Vergangenheit die Gegenwart bestimmt. Um das Regime der Angst, das diese Gesellschaft beherrscht.

 

Diese Prahlerei ist eine fundamentale Irritation. Wir erwarten von Massenmördern eine größere »Diskretion«. Die offizielle Geschichtsschreibung des Regimes spart die brutalen Details aus. Aber die Täter müssen mit ihnen leben und verbrämen sie deshalb mit heroischer Rhetorik. Im Unterschied etwa zum Holocaust wurden die Täter niemals durch Gerichte zu Schuldeingeständnissen gezwungen oder von der Welt verurteilt. Im Gegenteil: Die USA unterstützten die Massaker und feierten sie als Schlag gegen den Kommunismus.

 

Wie ist die Idee entstanden, die Täter ihre Morde nachspielen zu lassen? Sie taten es bereits! Alle prahlten mit ihren Taten, führten mich zu den Orten und stellten spontan nach, wie sie getötet hatten. Ich bekam keine Zeugenaussagen, ich wurde Zeuge einer Aufführung. Das berührt auch einen zentralen Aspekt meines Selbstverständnisses als Filmemacher: Immer wenn man jemanden filmt, erzeugt man eine fiktionale Realität mit dieser Person. Die Auffassung vom Dokumentarfilm als neutraler Beobachtungsinstanz ist eine Illusion. Sie versucht zu verschleiern, dass sich die Person vor der Kamera ihrer selbst bewusst ist. Dabei ist das ein höchst einsichtsvoller Moment. Denn wenn Menschen sich darstellen, sieht man, wie sie gerne gesehen würden und zugleich, wie sie sich tatsächlich sehen. Ich begriff: Wenn ich diese Täter dazu anrege, nach ihren Vorstellungen Spielszenen über ihre Taten zu entwickeln, den Planungsprozess zu diesen Inszenierungen dokumentiere und ihre Debatten darüber, was sie zeigen wollen und was nicht, kann ich diese Kernfrage beantworten.

 

Wie haben Sie ihre Protagonisten gefunden? Ich arbeitete mich schrittweise aufwärts in der Hierarchie der Todesschwadronen. Anwar Congo war der 41. Täter, den ich gefilmt habe. In seinen Prahlereien war er völlig typisch. Aber sein Schmerz saß dichter unter der Oberfläche. Als ich ihm die Szenen zeigte, in denen er seine Morde nachstellt, war er offensichtlich erschüttert. Doch anstatt seine Erschütterung einzugestehen, verlangte er nach Ausschmückungen: Er müsse anders spielen, andere Kleidung tragen. Jede neue Szene wurde surrealer, grotesker, geschmackloser und aufwändiger als die vorangegangene. Und jede Szene war eine neuerliche Leugnung seiner Schuld. Er organisierte Freunde, um Drehbücher zu -schrei--ben, Castings abzuhalten oder verschiedene Rollen zu spielen. Bis schließlich nahezu das gesamte Paramilitär, das Staatsfernsehen und das Netzwerk der Todesschwadron-Veteranen Nord-Sumatras in den Prozess involviert war. 

 

Ein radikaler Beleg dafür, dass Film ein moralischer Spiegel sein kann und Schauspiel eine therapeutische Methode? Mein Ziel war es, das System der Straffreiheit zu erforschen. Anwars Ziel war es, seinem Schmerz zu entkommen. Das Spannungsverhältnis dieser gegensätzlichen Bewegungen treibt den Film an. Es ist ein Balance-akt zwischen Abgestoßenheit und Mitgefühl für einen Mann, der von seiner Schuld verfolgt wird. Es wäre mir obszön erschienen, einen Täter therapieren oder zur Reue bewegen zu wollen. Es gibt ja auch keine Katharsis im Sinne einer Befreiung. Aber rückblickend scheint es unvermeidlich, dass diese Dramatisierung für Anwar zu einem Spiegel wurde. Ein dunkler Spiegel: für ihn, das Regime, die indonesische Gesellschaft. Aber auch für uns alle: Denn Männer wie Anwar sorgen täglich dafür, dass unsere Konsumgüter und Computer unter unmenschlichen Bedingungen billig produziert werden. In diesem Sinne sind wir alle die Gastgeber des kannibalischen Fests, das Anwar und seine Freunde feiern. 

 

Der Film berührt ein zentrales Problem der Ethik: Kommt Schuldbewusstsein von Außen, das heißt, fühlen wir uns schuldig, weil uns jemand schuldig spricht? Oder kann selbst in einer Gesellschaft, die Gewalt heroisiert, ein Gewissen als moralischer Kompass bestehen? Ich glaube, ich werde zum Optimisten. »The Act of Killing« hat in gewisser Hinsicht ein Happy End — wenn auch das wohl düsterste der Filmgeschichte. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass jeder Mensch weiß, was richtig und falsch ist — und dass dieses Unterscheidungsvermögen genuiner Teil unseres Menschseins ist. 

 

2012 wurde zum ersten Mal eine indonesische Studie über die Massaker veröffentlicht. Der Anfang einer öffentlichen Auseinandersetzung, zu der auch »The Act of Killing« einen Beitrag leistet? Der Film wurde in Indonesien mittlerweile über tausend Mal in über hundert Städten gezeigt. Die Medienreaktion war enorm. Der Film und die Studie haben einen Raum geöffnet, über dieses Tabu zu sprechen.