Verwundbarer Goliath

Moderner Piratenfilm: »Captain Phillips« von Paul Greengrass

Es ist zunächst nur ein kleiner Punkt auf dem Schiffsradar. Dann nähert sich das klapprige Schnellboot, auf dem sich vier ausgehungerte, schwer bewaffnete Männer befinden, unübersehbar. Wie eine Nussschale treibt das Boot im hohen Wellengang neben dem riesigen Containerschiff. Auf den ersten Blick sieht die Szene aus wie ein klassisches David-gegen-Goliath-Motiv, aber die Kräfte-verhältnisse sind hier umgekehrt. Während die somalischen Piraten furchtlos versuchen, über eine dünne Leiter das Schiff zu entern, versetzt ihr Anblick Kapitän und Besatzung des amerikanischen Großfrachters in Angst und Schrecken.

 

Natürlich ist das Größenverhältnis der Schiffe analog zu den ökonomischen Machtverhältnissen in der Welt, und die ausgemergelten Gestalten, die das Schiff kapern, spiegeln die Angstfantasien der westlichen Wohlstandsgesellschaften. Dabei erzählt Paul Greengrass in seinem neuen Film »Captain Phillips« eigentlich nur eine Geschichte, die sich sehr nah an den konkreten Erlebnissen des amerikanischen Kapitäns Richard Phillips (Tom Hanks) orientiert, der vor der ostafrikanischen Küste von somalischen Piraten entführt wurde.

 

Nachdem die Piraten in einem halsbrecherischen Manöver die »Maersk Alabama« geentert haben, müssen sie ihren Plan, das Schiff in somalische Gewässer zu lenken, bald aufgeben. Stattdessen flüchten sie in einem Rettungsboot mit dem Kapitän als Geisel Richtung Küste. Ein Kriegsschiff der US-Marine nimmt die Verfolgung auf, und die Navy Seals an Bord haben den klaren Auftrag, das Rettungsboot nicht an die Küste gelangen zu lassen — was nicht unbedingt das Überleben der Geisel mit einschließt.

 

Greengrass konzentriert sich mit seiner typischen, äußerst spannungsgeladenen Erzählweise voll auf das Entführungsopfer als Identifikationsfigur, lässt aber dennoch den Hintergrund und die Motivationen der Kidnapper durchscheinen. Das alles geschieht hier ohne politisch korrekte Anstrengungen, sondern aus dem semidokumentarischen Anspruch heraus, den der Brite schon in Filmen wie »Bloody Sunday« und »United 93« praktiziert hat. Ob Phillips Überleben letztlich das Ergebnis militärischer Präzisionsarbeit oder das glückliche Zufallsprodukt eines unkalkulierbaren Einsatzes ist, bleibt am Ende offen. Wenn der Kapitän nach seiner Rettung zusammenbricht, während die Marineärztin ihre Anweisungen im militärmedizinischen Kommandoton gibt, ist das ein Bild tiefster Einsamkeit — und alles andere als ein Happy End.