»Detroit, yeah...«

Forget Franzen: Der neue Pulitzerpreisträger heißt Jeffrey Eugenides. An seinem ausgezeichneten Roman »Middlesex« schrieb der Amerikaner fast zehn Jahre. Benedikt Geulen traf ihn auf ein Kölsch in Berlin

Bereits Eugenides erster Roman war ein Bestseller und wurde prominent verfilmt; nun stellt sein zweiter Roman seinen ersten Erfolg in den Schatten. Die deutsche Übersetzung von »Middlesex« war gerade fertig, da wurde ihm in New York der Pulitzer Prize zugesprochen. »Middlesex« bietet episch und dennoch kurzweilig erzählt die Geschichte dreier Generationen einer griechischen Einwandererfamilie in Detroit zwischen 1922 und 1975. Die schillerndste Figur ist der Erzähler, Cal (eigentlich Calliope Helen) Stephanides, ein Hermaphrodit, bis vierzehn als Mädchen, danach als Mann gekleidet – das bietet einigen Konfliktstoff, und Eugenides macht daraus einen erstaunlichen Roman: Klassisch komponiert, modern erzählt und postmodern verpackt.

StadtRevue: »Middlesex« hat eine außergewöhnliche Erzählerfigur, einen Hermaphroditen. Sie verweist auf die griechische Mythologie, also den Beginn unserer Erzähltradition, gleichzeitig haben Sie damit eine perfekte postmoderne Stimme gefunden. War es Ihre Absicht, eine neue »übergeschlechtliche« Sprache auszuprobieren?

Eugenides: Ich glaube nicht, dass ich so eine »transzendentale« Stimme jenseits beider Geschlechter erfinden wollte. Jede Figur hat eine Sprache, die aus dem realen Leben entsteht. Ich habe versucht, die Stimme so nah wie möglich an meiner eigenen zu orientieren. Zwar habe ich einen modernen Mythos eingebaut, indem ich die Figur des Hermaphroditen aus der Klassik entlehnt habe, aber ich habe ein »Update« vorgenommen: Ich habe ihn in eine tatsächlich genetisch definierte Person versetzt. Über die medizinischen und genetischen Fakten habe ich so viel wie möglich in Erfahrung gebracht. Meine Absicht war durchaus, der literarischen Idee des Hermaphroditen neues Leben einzuhauchen, denn sie spricht den Teil der menschlichen Psyche an, der mit Gefühlen der Metamorphose, der Pubertät und der Suche nach Identität verbunden ist. Das macht schließlich jeder durch. Also ist mein Hermaphrodit eine Art Symbol für das Erwachsenwerden, die Phase im Leben, in der man eine Identität entwickelt und sich über seine Sexualität klar wird.

Ihr Werk ist vielfach mit Jonathan Franzens verglichen worden. Ist »Middlesex« wie »The Corrections« Ausdruck einer aktuellen Entwicklung, oder gibt es international so etwas wie ein Zurück zu den erzählerischen Tugenden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts?

Ich glaube nicht so sehr an Nationalliteraturen. Was Leute beschließen zu schreiben ist doch sehr individuell. Eigentlich bin ich der Letzte, der sagen könnte, dass mein Buch irgendetwas repräsentiert oder ein typisch amerikanisches Buch ist. Sehen Sie, Sie sind der Zoologe und ich bin das Tier. Das Tier weiß gar nicht, was für eine Art Tier es ist. Also denke ich nicht viel darüber nach. Was den Rückgriff auf das 19. Jahrhunderts angeht, glaube ich, dass einige Autoren meiner Generation fasziniert davon sind, postmodernes Erzählen mit dem des vorletzten Jahrhunderts zu vermengen. In meinem Fall sind es zusätzlich die großen Epen der Klassik. Ich empfinde keinen Bruch zwischen europäischer und amerikanischer Literatur. Alles was ich schreibe, betrachte ich als Teil einer langen, aus Europa stammenden Tradition.

»Middlesex« spielt in Ihrer Heimatstadt Detroit, Michigan, und liest sich für uns schon »amerikanisch«. Spiegelt eine »Motor City«-Geschichte in besonderem Maße das typisch amerikanische Leben wider?

Ich bin nicht sicher, ob Detroit besonders prototypisch für Amerika ist. Aber sicherlich ist die Stadt ebenso beispielhaft für die wichtigen Realitäten Amerikas wie jede andere. Es ist z.B. die Stadt, in der der amerikanische Einfallsreichtum die Massenproduktion erfand. Dann hatten wir den Komplex des Industrieabbaus und das entsprechende Outsourcing, was man bis zur aktuellen Globalisierungsdebatte verfolgen kann. Detroit wurde in den 60er Jahren durch massive Rassenkonflikte erschüttert. Außerdem hat die Stadt eine Menge Kultur hervorgebracht. »Motown«, Madonna, Eminem, die White Stripes. Da ich nun mal in dieser Stadt aufgewachsen bin, liegt es nahe, dass ich über sie schreibe. Ich schreibe in gewisser Weise auch über die amerikanischen Gegebenheiten, die vor allem in Europa verstanden werden. Interessant ist z.B., dass Berlin der einzige Ort ist, an dem die Leute eine gute Meinung von Detroit haben. Das liegt wohl an der Techno-Musik. Die begann in Detroit, und Berlin ist ebenfalls eine Techno-Hochburg. Normalerweise hat Detroit einen schrecklichen Ruf. Aber hier sagen die Leute: »Detroit, yeah...«. Es gibt bestimmte Ähnlichkeiten zwischen den Städten, die mir das Leben hier angenehm machen.

In »Middlesex« gibt es nur zwei ganz kleine Hinweise auf Musik. Die Rebetika-Plattensammlung des Großvaters und später im Buch die eher verwirrende Begegnung mit einigen Greatful-Dead-Fans in San Francisco. Warum so wenig Musik?

Es gab ursprünglich eine sehr lange Passage über Motown. Aber ich musste sie leider herausnehmen, weil mein Lektor meinte, sie sei wohl ein bisschen zu ausufernd geworden. Wahrscheinlich habe ich dann viel mehr herausgenommen als er eigentlich wollte. Ich beschloss, den Teil zu straffen, und weg war er. Das tut mir jetzt schon ein bisschen leid.

In der letzten Ausgabe der StadtRevue gab es ein Interview mit einem Ihrer ehemaligen Studenten, Jonathan Safran Foer. Er ist gerade mal 25 und international sehr erfolgreich mit seinem ersten Roman. Es gibt eine Menge ähnlicher Beispiele. Ist das eine Folge besserer Ausbildung, oder sind die Verleger aufmerksamer geworden?

Leute wie Foer oder Zadie Smith sind ein Phänomen, das nichts mit Ausbildung zu tun hat. Ich habe schließlich damals die gleichen Kurse wie Jonathan besucht und dennoch nichts veröffentlicht, bis ich 28 war, meinen ersten Roman schließlich mit 33. Der Unterschied ist vielleicht, dass sie so früh schon an ihre Fähigkeiten glauben. Es herrscht vielleicht jetzt ein Klima, das Autoren anregt, schon früher loszulegen. Um ehrlich zu sein, war ich mit 25 ziemlich unstet, mit Sicherheit hätte ich damals noch keinen annehmbaren Roman zustande gebracht.

Erstaunlich ist doch, wo wir eben von Musik sprachen, dass man einem Musiker niemals sagen würde, er solle erst mit 30 anfangen...

Ja klar, das ist ja auch viel einfacher als schreiben! Nein, ernsthaft: Zum Schreiben braucht es schon eine gewisse Lebenserfahrung. Musikalisch kriegt man die Grundlagen als Jugendlicher vermittelt und ist dann mit 20 so weit. Außerdem muss man dafür jung und sexy sein! Ein alternder Rocker, das ist doch kontraproduktiv. Vor kurzem fragte ich mich mit Freunden, warum wir keine Rockstars geworden sind. Dann wären wir nur von jungen Leuten umgeben. Bei Lesungen ist das Durchschnittsalter doch enttäuschend hoch. Wir haben einfach den falschen Beruf! – Das ist natürlich Quatsch. Wär ja auch irgendwie furchtbar, dauernd Teenie-Popper an den Fersen zu haben. Na ja, das können Sie streichen, war nur ein Witz!

Sie leben heute in Berlin. Wie kam das?

Ich habe mich für das »Berliner Künstlerprogramm« des DAAD beworben. Meine Frau hatte das eigentlich vorgeschlagen. Ich bekam das Stipendium und es hat unser Leben gründlich verändert. Wir sind jetzt vier Jahre hier. Eigentlich war alles anfangs nur eine spontane Entscheidung.

Wie wichtig ist für Sie die deutsche Ausgabe des Romans?

Der deutsche Buchmarkt ist neben dem englischen einer der besten der Welt. Die meisten Autoren wünschen sich ganz sicher, auf diesem Markt zu erscheinen. Für mich war es besonders schön, da ich ja nun tatsächlich zum ersten Mal erlebe, dass mein Buch dort erscheint, wo ich lebe. Ich freue mich sehr darauf, es in den Buchhandlungen liegen zu sehen.

Jeffrey Eugenides: Middlesex. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld, Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, 736 S., 24,90 Euro.
Air Mail. aus dem Amerikanischen von Cornelia C. Walter, Verlag DAAD, Berlin 2000, 90 S., 8,60 Euro.