Wilder Osten

Männer und Frauen sehen rot: »A Touch of Sin« von Jia Zhangke

Jia Zhangkes erste Werke sind noch in einem ab und an leicht poppigen Realismus gehalten. Spätestens aber die Science-Fiction-Elemente in seinem Meisterstück »Still Life« (2006) machen klar, dass er nicht bloß im Sinn hat, kritisch und wirklichkeitsnah die Gegenwart und Geschichte der Volksrepublik China nachzuzeichnen. Film für Film kommt ein bislang noch nicht verwendetes Kontrastmittel zum Einsatz, das die gesellschaftlichen Strukturen des Landes in bis dato unbekannten Farben schillern lässt. Mit »A Touch of Sin« geht Jia Zhangke noch mal mit Siebenmeilenstiefeln weiter. Seine erste echte Genre-Übung ist eine perfekte Mixtur aus Kampfkunstfilm (Wuxiá Pian) und Actionfilm in der Tradition der Hong-­­Kong-Blut-Opern. Jia versuchte schon seit längerem, ein klassisches Kampfkunst-Epos zu schaffen, was aber nie gelang. Also drehte er statt einer Allegorie auf die Verhältnisse im Genregewand nun einfach einen Film über die Verhältnisse selbst, jedoch mit mäch­­tig forcierten Genre-Elementen.

 

»A Touch of Sin« ist eine Anspielung auf den englischen Titel von King Hus Wuxiá-Monument »A Touch of Zen« (1971). Aber hier wird nicht mit Verweisen geflirtet, sondern blutig Ernst gemacht. Gleich zum Beginn wird ein Motorradfahrer von drei Handbeile schwingenden Wegelagerern überfallen — und entledigt sich ihnen wie selbstverständlich mit einer Automatik-Pistole aus der Innentasche seiner Jacke. Und um einen Flüchtenden noch zu erwischen, packt er sich die Faustfeuerwaffe zwischen die Zähne und braust ihm auf seiner Maschine hinterher.

 

Das alles in einer realitätsnahen Inszenierung, die »A Touch of Sin« so faszinierend macht — De­­tails aus dem chinesischen Alltag befeueren den Film. Es ist genau diese Normalität mit ihrer grotesken Bürokratie, allgegenwärtigen Korruption, Misogynie und Ausbeutung all jener, welche das Herz eines Arbeiter-, Bauern- und Sol­datenstaates sein sollten, die hier vier Figuren zum Äußersten gehen lässt. Dieses Meisterwerk zeigt, wie der Genrefilm einer aus den Fugen geratenen Gegenwart entwächst. Was für ein Jahresbeginn!