Foto: Bernd Wilberg

Go Vegan - Lifestyle mit Attitüde

»Wie viele Veganer braucht man, um eine Glühbirne auszuwechseln? — Zwei! Einer schraubt die Birne ein, der andere überprüft die Verpackung auf tierische Inhaltsstoffe.« Wie viele Menschen sich bundesweit mittlerweile vegan ernähren, lässt sich nicht genau sagen: Die nationale Verzehrsstudie zählte 2008 gut 80.000 Bundesbürger, mittlerweile sprechen Interessensverbände von mehr als einer halben Million Veganern. Veganismus entwickelt sich mehr und mehr zum Lifestyle-Trend. Gerade dort, wo man am wenigsten Kontakt mit der Produktion von Fleisch hat, wächst die Szene am schnellsten. Die Tierschutzorganisation Peta hat eine Liste mit den veganfreundlichsten Städten vorgelegt: Berlin führt die Liste vor München und Leipzig an — Köln liegt auf Platz vier. Christian Steigels und Christian Werthschulte haben sich zwischen Kalk und der Innenstadt, zwischen den 80er und den Nullerjahren umgeschaut.

In großen, schwarzen Lettern prangt der Schriftzug auf Benjamin Greifs Hals. »Vegan« steht dort, und wer schon einmal am Hals tätowiert wurde, weiß, dass es weniger schmerzhafte Stellen gibt. »Für mich ist das eine Absicherung. Ich will jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel schaue, wissen, was ich zu tun habe.« Er überlegt einen Moment, und fügt dann hinzu: »Das Tattoo ist mein Ehering.«

 

Seit zehn Jahren ist der 29-Jährige Vegetarier, seit rund fünf Jahren lebt er ganzheitlich vegan. Er isst keine tierischen Produkte, trägt kein Leder, Wolle und Co. und nimmt keine Medikamente, die Gelatine oder Milchzucker enthalten. »Ich will nicht, dass Blut an meinen Händen klebt. Vielleicht kann ich durch diesen Boykott etwas verändern, vielleicht auch nicht.«

 

Benjamin Greif ist einer von denen, die man früher als Sonderling betrachtet hätte, als selbstgerechten Besserwisser. Mittlerweile gehört er zu den Avantgardisten guter Ernährung. Besonders unter Großstädtern ist der Verzicht auf tierische Produkte Teil des Alltags geworden. Ob beim Crêpe-Essen in Nippes, beim Sandwich auf der Aachener Straße oder beim Milchkaffee an jedem besseren Büdchen: ohne vegane Option geht nichts mehr. Der vegane Supermarkt Goldene Zeiten an der Weyerstraße erweitert dieser Tage sein Ladengeschäft und bekommt ab März 2014 Konkurrenz. Die Supermarktkette Veganz eröffnet nach Filialen in Berlin und Frankfurt auch in Köln.

 

Vegane Mini-Meile in Kalk

 

»In den vergangenen zwei Jahren hat das angezogen. Dieses Jahr ist es dann explodiert, jede Menge neuer Läden machen auf«, sagt Björn Schmidt. Der 32-jährige Historiker lebt seit sieben Jahren vegan. Während es früher schwieriger gewesen sei, vegan essen zu gehen oder sich mit Lebensmitteln zu versorgen, sei das heute vergleichsweise einfach, so Schmidt.

 

Zum Beispiel in Kalk. An der Josephskirchstraße gibt es eine vegane Mini-Meile. Das »Vegetaja« hat Lebensmittel und Kosmetik im Programm, ein Stück weiter bietet das Café Fatsch vor allem Kuchen und Cupcakes zu fairen Preisen an. »Es ist wichtig, dass es so etwas in einer großen Stadt gibt. Ich kenne das selbst, dass ich in Restaurants aus Mangel an Alternativen oft Salat und Pommes esse«, sagt Mitbetreiberin Anna. Die 25-Jährige betreibt den Laden gemeinsam mit zwei Frauen und einem Mann als Kollektiv. Zwei von ihnen leben vegan, die anderen vegetarisch. Nachdem sie zuvor ein halbes Jahr lang jeden Freitag ein veganes Café in der Kneipe Vorstadtprinzessin »geprobt« hatten, eröffneten sie im Oktober ihr eigenes Etablissement.

 

Mit viel Herzblut und Do-It-Yourself-Ethos haben sie aus einer einst gutbürgerlichen Kneipe einen von Couches und Holz dominierten Laden gemacht. Renoviert haben sie selbst, fast alle Möbel sind aus zweiter Hand. Das Angebot wird angenommen, von Menschen aus der ganzen Stadt. »Auch Leute aus Ehrenfeld oder Sülz kommen hierher«, freut sich Kollegin Mara. Es gab ein Kleidertausch-Café, zuletzt einen Programmierworkshop für Frauen. Reich werden wollen die vier mit dem Café nicht: »Wir verdienen damit kein Geld, wenn wir bei null rauskommen, ist alles super«, erklärt Anna.

 

Pop-up-Kuchenverkäufe, Kochgruppen, Stammtisch und Sonntagsbrunches

 

Bei null rauskommen, das ist für Annika Heil im Moment noch nicht vorstellbar. Zweimal in der Woche arbeitet die Sozialarbeiterin in einem Wohnheim für Behinderte, die restliche Zeit steht sie hinter dem Tresen des Café Hibiskus. An der Ritterstraße gibt es Retro-Mobiliar und Indierock, Quiche und Kuchen sowie fair gehandelten Kaffee. Dass sämtliche Speisen und Getränke vegan sind, erkennt man nicht sofort. Sie wollte »einen niedrigschwelligen Ort« schaffen, sagt sie. »Ich möchte gerne, dass die Leute einfach mal hier reinkommen.« Was nicht bedeutet, dass ihr Café keinen politischen Anspruch hat. »Ich möchte die kleine Macht, die man als Verbraucher hat, nutzen, um der Industrie zu zeigen, dass es auch anders funktioniert.«

 

Und so gibt es nur Bio-Soja und fair gehandelten Kaffee, die Quiche wird im befreundeten Café Fatsch gebacken. Überhaupt, das Backen: Es stand im Mittelpunkt von Heils Weg zur Café-Betreiberin — wenn auch zunächst nur im Freundeskreis Kaffeeklatsch. »Ich bin seit dem neunten Lebensjahr Vegetarierin«, erzählt sie. »Für mich war es nur ein kleiner Schritt, vegan zu werden. Und weil es in meinem Freundeskreis immer mehr Veganer gab, habe ich angefangen, ohne tierische Zutaten zu backen.« Aus dem Kaffeeklatsch wurde die Veranstaltung »Less Talk, More Cake« im Atelier 68 in Ehrenfeld. Und daraus wurde das Café Hibiskus, ein Ort nicht nur für Veganer, »die Außenseiter, die es bald hoffentlich nicht mehr sind.«

 

Denn sobald man sich ein wenig mit dem veganen Leben Kölns beschäftigt, wird klar, wie gesellig das alles ist. Es gibt Cafés, Pop-up-Kuchenverkäufe, Kochgruppen, einen Stammtisch und Sonntagsbrunches. »Mein Freundeskreis hat sich schlagartig verdoppelt, als ich vegan geworden bin«, erzählt John Campana. Er ist Teil des Vegan Love Collectives, die veganes Essen auf Festen verkaufen. Die Erlöse gehen an Tierschutzprojekte und Menschenrechtsorganisationen.

 

Parallelen in der industriellen Ausbeutung von Tieren und Menschen

 

Seit März 2012 ernährt sich der Deutsch-Amerikaner vegan. Mit der Umstellung änderte der Koch seine gesamte Lebensweise. Er nahm 26 Kilo ab und ließ sich die Haare wachsen: »Ich bin ein kleiner Hippie geworden«. Tagsüber arbeitet er im veganen Supermarkt Goldene Zeiten, ansonsten bietet er als Monkey in the Kitchen Kochkurse an oder präsentiert auf veganen Lebensmittelmessen eigene Rezepte. Im März wird er dies zum Vollzeitjob machen und in Ehrenfeld als Küchenchef in einem veganen Restaurant anfangen. »Das soll eine Mischung aus Rohkost und veganen Mahlzeiten werden, die von der mexikanischen oder gutbürgerlichen Küche inspiriert ist«, beschreibt er seine Pläne. Damit stößt er in eine Marktlücke. Denn während man mittlerweile problemlos vegane Snacks erhält, sind vegane Speisen in Restaurants noch selten.

 

Inspiration für seine Speisekarte holt Campana sich überall, aus dem Rezeptbuch seiner deutschen Mutter oder aus Los Angeles, wo seine Schwester wohnt. Dort hat auch eins der erfolgreichsten vegetarischen Restaurants weltweit eine Filiale: Im Café Gratitude wird vegane Rohkost zusammen mit Lebenshilfe serviert. Die Gründer der Restaurantkette sind Absolventen des Landmark-Education-Programms, einer nicht unumstrittenen Selbsthilfe-Organisation. Die Angestellten von Café Gratitude werden angehalten, an Programmen von Landmark teilzunehmen.

 

Tierproduktfreie Ernährung als Teil der Optimierung des Selbst — das ist der neueste Dreh in der Geschichte des Veganismus. Der Begriff selbst ist noch gar nicht so alt. 1944 gründete Donald Watson in Großbritannien die Vegan Society, die einen »milchfreien Vegetarismus« propagierte. Watson lehnte die Bedingungen der Produktion von Fleisch und Milch ab und stand damit nicht allein. Der französische Anarchist Pierre-Joseph Proudhon sah schon 1840 eine Parallele in der industriellen Ausbeutung von Tieren und Menschen. Auf diese Gemeinsamkeit berufen sich auch heutige Tierrechtler. Die 1976 gegründete Animal Liberation Front lehnt den Besitz eines anderen Lebewesens kategorisch ab, auch die Hilfsorganisation »Food Not Bombs« verteilt bei ihren Aktionen kostenlos vegetarisches oder veganes Essen, um auf die Verschränkung zwischen kapitalistischer Produktion und Tiernutzung hinzuweisen. Sobald man mit Kölner Protagonisten der Vegan-Szene spricht, zeigt sich ein weiterer Einfluss: die Punk- und Hardcore-Szene.

 

»Straight Edge«als wichtiger Motor

 

»I’m a person just like you, but I’ve got better things to do« — so beginnt der Song, der 1981 einer Subkultur ihren Namen gab: »Straight Edge« von Minor Threat. Auf Drogen und Tabak verzichten, um politisch klar handeln zu können, so lautete die Botschaft. Ab Ende der 80er Jahre kam Vegetarismus dazu, für den sich Bands wie Youth of Today aussprachen, später folgte der Veganismus. Seitdem wurde der Verzicht auf Fleisch zu einem wichtigen Bestandteil von Straight Edge. Die New Yorker Band Shelter begründete ihren Vegetarismus aus der Krishna-Religion, die Metalcore-Band Earth Crisis sprach sich für Organisationen wie Earth First! aus, war jedoch wegen ihrer Nähe zu Abtreibungsgegnern in der Szene umstritten. Ein Teil der Punkszene lehnte den Dogmatismus der Straight Edger ab. Die linksradikale, vegane Band Propagandhi aus Kanada nahm etwa einen Song auf, in dem sie »Fuck Straight Edge, Get Bent« skandierten, um das Machogehabe der überwiegend männlichen Szene zu kritisieren.

 

Auch für Guido Ritz war die Straight-Edge-Szene die Tür zum Veganismus. »Als ich mit 17 Jahren straight edge wurde, bin ich auch gleich Vegetarier geworden. Ein knappes Jahr später kam der Veganismus«, erzählt er. Der 36-Jährige mit den tätowierten Armen und Tunnelohrringen kommt eigentlich aus Jüchen, gleich nördlich des rheinischen Braunkohlereviers. Das Rheinische hört man, wenn er von damals erzählt. »Anfangs habe ich das aus Gründen der Coolness gemacht. Das war neu, das machte niemand sonst«, erzählt er. Die Straight-Edge-Bewegung verlor an Bedeutung, doch Ritz ist dabei geblieben: Kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Drogen, kein Fleisch, keine tierischen Produkte.

 

Heute lebt er sein veganes Leben vor allem privat, doch er hat alles mitgemacht in der Vergangenheit, erzählt er. Von den Missionierungsphasen am Anfang über die Aktivisten-Phase mit Infoständen in der Innenstadt und Demo-Hopping am Wochenende. »Das war mitunter schon eine komische Szene. Eine Frau ist bei einer Aktion gegen den Zirkus in die Tierschau gegangen, um den Tieren zu sagen, dass wir sie befreien kommen. Das war der Vibe damals,« erinnert er sich.

 

Politische Motivation vs. hippe und coole Lifestyle-Gründe

 

Die Motivation für Veganer scheint heute ausdifferenzierter als in der Vergangenheit. Man kann aus tierrechtlichen, aus entwicklungspolitischen, aus klimapolitischen, aus gesundheitlichen oder schlicht aus Lifestyle-Gründen auf tierische Produkte verzichten. »Man braucht halt irgendeinen Startpunkt. Bei mir war das eine Punkband, die darüber gesungen hat. Wenn das bei anderen etwas anderes ist, auch gut«, sagt Björn Schmidt. Ritz pflichtet bei: »Jeder Mensch, der vegan lebt, trägt dazu bei, dass es in die richtige Richtung geht.« Es gibt allerdings auch kritische Töne: »Die Gründe sind letztlich egal, klar. Die politische Motivation ist mir aber schon lieber als die hippen und coolen Lifestyle-Gründe«, sagt Mara.

 

Verantwortlich für die Popularität von veganer Ernährung als Lifestyle und Diät ist Attila Hildmann, Autor dreier Kochbücher mit Titeln wie »Vegan for Fit« oder »Vegan for Youth«. Er ist das Gesicht und der Sixpack des neuen Veganismus. »Er hat den Veganismus weg von der Ethik und hin zum Körperkult gebracht«, erzählt John Campana. Hildmann ist gern gesehener Talkshow-Gast, kocht bei »TV Total« mit dem gelernten Metzger Stefan Raab und zeigt dabei Bilder von Menschen, die dank seiner veganen Kochbücher abgenommen haben. Mara vom Café Fatsch kritisiert diese Entwicklung: »Dieser Veganismus nährt neue Ismen. Es gibt mittlerweile Frauen, die vegan leben, weil sie damit gut begründen können, dass sie kaum noch etwas essen«, sagt sie. Auf Youtube findet man zuhauf Videos, in denen junge Mädchen von ihren Erfahrungen mit Veganismus erzählen.

 

Für Mara ist der Veganismus untrennbar verbunden mit einem ganzheitlichen politischen Ansatz. Nicht umsonst ist das Café Fatsch als Kollektiv organisiert. »Für uns geht es auch darum, Hierarchien abzubauen, sich nicht gegenseitig auszubeuten, Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen. Das betrifft nicht nur Tiere, sondern vor allem auch Menschen.« Bei reinen Lifestyle-Veganern fehlten ihr die kapitalismuskritischen Inhalte. Für Guido Ritz ist das ähnlich. »Meine Freundin und ich sind Naturstromkunden, wir sind bei der GLS-Bank. Für mich gehört das alles mit dazu.« Auch darum kritisieren viele Veganer aus dem linken Spektrum die Berliner Supermarktkette Veganz. Die Vorwürfe: die meisten Artikel werden aus den USA importiert, regionale oder saisonale Aspekte spielen keine Rolle.

 

Nicht alle sehen Veganismus als ganzheitlich politisch

 

Die Szene ist uneins in dieser Frage: Selbst wenn der Genuss am Essen, am Kochen oder am Ausprobieren von neuen Rezepten im Vordergrund steht, zeigen sich politische Effekte, meint John Campana. »Auch derjenige, der aus Gesundheitsgründen vegan lebt, tut etwas für die Umwelt und die Tiere.« Beim Veganen Stammtisch Köln, der jeden Dienstag in wechselnden Lokalitäten stattfindet und bei Facebook bereits über 200 Mitglieder zählt, sieht man den Veganismus ebenfalls nicht notwendigerweise als ganzheitlich politisch: »Ich finde es arrogant, wenn Veganer sagen, man ist nur dann richtiger Veganer, wenn man auch gegen Atomkraft, für faire Produkte und gegen Kapitalismus ist«, sagt ein Teilnehmer. »Man muss als Veganer nicht McDonalds boykottieren. Dort gibt es auch Kaffee mit Sojamilch.«

 

Egal ob beim multinationalen Fastfoodkonzern, im selbstverwalteten Café-Kollektiv oder am eigenen Herd — das vegane Leben ist gekommen, um zu bleiben. Vegane Interessensverbände gehen von über 600.000 Veganern in Deutschland aus, Tendenz steigend. »Diese Welle ist da, und sie ist nicht mehr komplett umkehrbar«, ist sich Björn Schmidt sicher. Und die meisten altgedienten Veganer begrüßen den Trend alleine schon aus ganz egoistischen Gründen, wie Benjamin Greif erklärt: »Wenn ich früher davon erzählt habe, waren die Reaktionen häufig so, als wäre Veganismus eine Allergie oder eine Krankheit. Das ist zum Glück nicht mehr so.«