Andreas Grüter lebt seit zwei Jahren vegan. Der Weg dorthin war nicht so schwierig, wie er sich lange einreden wollte. | Foto: Peter Zembol

Go Vegan - Annäherung an den Optimalzustand

»Wie viele Veganer braucht man, um eine Glühbirne auszuwechseln? — Zwei! Einer schraubt die Birne ein, der andere überprüft die Verpackung auf tierische Inhaltsstoffe.« Wie viele Menschen sich bundesweit mittlerweile vegan ernähren, lässt sich nicht genau sagen: Die nationale Verzehrsstudie zählte 2008 gut 80.000 Bundesbürger, mittlerweile sprechen Interessensverbände von mehr als einer halben Million Veganern. Veganismus entwickelt sich mehr und mehr zum Lifestyle-Trend. Gerade dort, wo man am wenigsten Kontakt mit der Produktion von Fleisch hat, wächst die Szene am schnellsten. Die Tierschutzorganisation Peta hat eine Liste mit den veganfreundlichsten Städten vorgelegt: Berlin führt die Liste vor München und Leipzig an — Köln liegt auf Platz vier. Unser Autor Andreas Grüter erklärt, warum er seit zwei Jahren vegan lebt.

Angefangen hat alles in der ersten Hälfte der 80er Jahre mit Punkrock und Hardcore, Autonomen Zentren und besetzten Häusern. Neben einer praxisnahen Einführung in den Anarchismus, einer umfassenden musikalischen Sozialisierung und der Erkenntnis, dass D.I.Y. mehr sein kann als nur drei Buchstaben, immer mit an Bord auch die Frage nach Tierrechten. Die Anarcho-Punks von Flux of Pink Indians und Crass stellten sie, die Grindcore-Band Ripcord auch, und in Fanzines kamen immer wieder britische Jagdsaboteure und Vertreter der Animal Liberation Front zu Wort.

 

Meine persönliche Antwort blieb ich allerdings erst einmal schuldig. Das änderte sich erst mit Bands wie Youth of Today, Fugazi oder Gorilla Biscuits, die Ende der 80er Jahre den Diskurs um Vegetarismus erweiterten. Doch es dauerte — abgesehen von einem ersten, recht armseligen Versuch des Fleischverzichts — noch bis 1991, um die Praxis der Theorie folgen zu lassen.

 

Vegetarismus war damals eine Entscheidung, die außerhalb des Hardcore-Undergrounds einem mittelschweren sozialen Desaster gleich kam. Eltern schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und vermuteten Sektenzugehörigkeit oder eine perfide Terroridee ihrer renitenten Sprösslinge. Mensaköche glaubten sich zu verhören, klatschten empört ein paar Kartoffeln und einen Haufen verkochtes Gemüse auf den Teller oder verweigerten die Sonderwünsche.

 

Als elend schlechter Chef de Cuisine verwandelte ich mich erst einmal in das, was man landläufig einen Puddingvegetarier nennt. Pizza und Pasta, Bratling und Falafel, Fastfood und Slowfood — alles geht klar, solange weder Fleisch noch Fisch involviert ist. Für mich war das soweit okay. Schließlich waren meine Beweggründe nicht gesundheitlicher Natur, sondern fußten auf einer einfachen Regel, wonach diejenigen, die Fleisch essen wollen, verdammt noch mal auch Tiere töten können müssen. Hinzu kam meine Ablehnung von Massentierhaltung, das Wissen über die massive Abholzung der Regenwälder zugunsten von Weideflächen und die Weigerung, beim psychologischen Selbstbeschiss des steril eingeschweißten Supermarktprodukts »Fleisch« mitzumachen.

 

Es gab und gibt mehr als genug gute Gründe, um sich hier zu positionieren und eine Haltung einzunehmen. Meine ist zwar konsequent, aber eher leise. Im Gegensatz zu so manchen Mitstreitern, die mit dem Vorschlaghammer missionieren (»Du siehst Essen, ich seh Mord!«), bevorzuge ich die Überzeugungskraft des zufälligen Gesprächs.

 

Aber zurück zum Puddingvegetarismus. Den habe ich über einen Zeitraum von 21 Jahren langsam, aber sicher abgestreift und vor zwei Jahren dann zugunsten einer veganen Lebensweise komplett an den Nagel gehängt. Vorausgegangen war ein jahrelanger, von Lebensmittel- und Mastskandalen immer wieder zusätzlich befeuerter Flirt mit der Thematik und schließlich die Erkenntnis, dass, egal wie man es dreht oder wendet, ein konsequent zu Ende gedachter Vegetarismus eben Veganismus heißt. Ob Tiere nun ihres Fleischs, ihrer Milch oder ihres Fells wegen eingepfercht und mit Hormonen vollgepumpt werden, spielt keine Rolle.

 

War der Umstieg schwer? Im Gegenteil — es war überraschend einfach. Längst kann man Fleisch- und Milchersatzprodukte nicht mehr nur im Bio-, sondern auch im Supermarkt kaufen, im Restaurant hat das »V-Wort« keinen Rauswurf mehr zur Folge, das Thema tierfreie Ernährung ist wohl in der sprichwörtlichen Mitte der Gesellschaft angekommen. Nichtsdestotrotz fordert der Veganismus die Auseinandersetzung mit Lebensmitteln und sonstigen Konsumgütern. Schließlich sprechen wir nicht nur über das tägliche Brot, sondern auch über Seifen, Zigaretten, Wollpullover, Lederschuhe und Daunendecken, um nur einige Produkte zu nennen. Es heißt, Beipackzettel und Zutatenlisten checken und sich umfassend informieren, und so treiben mich derzeit nicht nur unerwartete Fragen wie »Was macht der Honig im Graubrot« und »Warum ist da Fischmehl in den Chips« um: Ich muss auch eine neue Haltung zu meinen alten Lederschuhen gewinnen (auftragen oder nicht?), zu Knochenleim in Sneakern und zu Lederpatches auf Fairtrade-Jeans, die mit der billigen Trash-Buxe mit Plastiketikett konkurrieren, die zwar unter veganen Gesichtspunkten legitim ist, aber unter miesen Arbeitsbedingungen gefertigt wurde.

 

Ich halte es dabei gern mit einem alten Freund, einem Ironman-Triathleten, der seit zwanzig Jahren vegan lebt, womit die Frage nach dem möglichen Abnehmen körperlicher Leistungsfähigkeit auch geklärt sein dürfte. Veganismus sei immer nur die Annäherung an den Optimalzustand, sagte er unlängst. Den hundertprozentigen Veganer gibt es möglicherweise nicht. Was zählt, ist der Wille und der Anspruch, zu lernen und dabei konsequent zu sein und zu bleiben.

 

Meine Eltern haben mein Nein zu sämtlichen Tierprodukten vor zwei Jahren übrigens überraschend sportlich genommen und mich Weihnachten mit einer großen Kiste selbst gebackener veganer Kekse überrascht.