Dienstleistung oder Unterwerfung – die Debatte

Prostitution wird zurzeit hitzig diskutiert – unter ­moralischen und kriminalistischen Gesichtspunkten. Doch um welche Art Arbeit geht es eigentlich? Und kann man den Problemen mit Verboten beikommen? Lasst uns über Arbeit reden! Ein Beitrag zur Diskussion

Von Zeit zu Zeit erschüttern Skandale aus der Arbeitswelt die Öffentlichkeit. Das ist, wenn man so will, auch schon wieder ein Skandal. Denn die skandalisierten Arbeitsbedingungen – etwa bei Paketzustellern, Amazon-Packern oder Lidl-Angestellten – sind keine Ausreißer, sondern die Normalität. Aber über die Normalität zu reden, ist dann doch zu lang­weilig oder zu heikel, denn wenn man die Normalität angreift, greift man gleich auch alles an. Und so kommt es, dass schließlich kaum einer davon ablässt, bei Amazon zu bestellen oder die Zusteller zu beschimpfen, wenn die fälschlicherweise das Paket beim Nachbarn abgegeben haben.

 

Bei der Debatte um Prostitution, die im letzten halben Jahr die Republik auf Trab gehalten hat, verhält es sich anders. Nicht nur, weil Empörung und Diskussionseifer – auf allen Seiten – nicht nachlassen wollen. Nüchtern betrachtet handelt es sich auch hier um einen Skandal aus der Arbeitswelt: Alles spricht dafür, dass die Legalisierung oder besser: Institutionalisierung der Prostitution, wie sie vor zwölf Jahren von der damaligen rot-grünen Regierung in Kraft gesetzt wurde, nicht die erhofften Effekte gezeitigt hat. Die Prostituierte als Arbeitskraftunternehmerin – typischer Jargon der rot-grünen Jahre mit ihrer neoliberalen Deregulierungsagenda – ist nicht auf die Bühne der Öffentlichkeit getreten. Mithin die sozial- und krankenversicherte Prostituierte, die den Aufstieg in den Mittelstand geschafft hat – die Ich-AG. Stattdessen ist von zunehmender Zwangsprostitution die Rede, von Menschenhandel, von einer regelrechten Über-Ausbeutung der Sexarbeiterinnen.



Der Debatte fehlen die belastbaren Zahlen



Der Unterschied zu den anderen Skandal-Debatten aber ist: Es wird vehement bestritten, dass es ein Skandal ist. Denn auf jeden Artikel, der auf den Zwangscharakter der Prostitution hinweist, auf Menschenhandel und besonders dreiste Zuhälterei, folgt umgehend ein anderer, der das bestreitet und etwa behauptet, es sei immer noch besser, sich als Sex­arbeiterin zu verdingen anstatt auf Hartz IV angewiesen zu sein.

 

Tatsache ist: Der Debatte fehlen die belastbaren Zahlen. Sind in Deutschland 700.000 Sexarbeiterinnen unterwegs, 400.000 oder doch nur 200.000? Und wieso eigentlich nur Sexarbeiterinnen? Wie viele Männer gibt es eigentlich, die anschaffen gehen? Wie hoch ist der Anteil von Migrantinnen und Migranten? Ab wann kann man von Zwangsprostitution sprechen, was ist noch Armutsprostitution? Ist die These Alice Schwarzers zu belegen, dass die überwältigende Mehrheit der Frauen auf dem Strich in ihrer Kindheit sexuell misshandelt worden ist? Was wissen wir von den Freiern? Haben fünfzig Prozent aller geschlechtsreifen Männer in Deutschland schon mal die Dienste einer Hure in Anspruch genommen? Doch eher nur dreißig? Noch weniger? Und wie groß ist unter ihnen der Anteil der Gewohnheitsfreier? Man weiß das alles nicht. Es gibt nur Schätzungen, Stichproben, und sie weisen allesamt darauf hin, dass die Zahlen eher niedriger als höher einzuschätzen sind.



Die Prostituierte verkauft nicht ihren Körper, aber auch nicht einfach eine Dienstleistung



Wenn einem die Empirie fehlt, kann man zumindest über das Grundsätzliche reden – den Charakter der Arbeit. Tatsächlich entzündet sich hier die eigentliche Kontroverse: Ist Prostitution eine Dienstleistung – »wie jede andere«, also wie die einer Putzkraft oder eines Paketzustellers? Oder ist es »Über-Ausbeutung«, eine Tätigkeit, die mehr noch als der übliche Scheiß namens Lohnarbeit Körper und Seele kaputt macht?

 

Also – Dienstleistung oder nicht? (Halten wir uns an die Standarddefinition: Eine Dienstleistung ist die Art von Arbeit, bei der Produktion und Konsumtion ineins fallen.) Das ist keine akademische Frage, denn aus der Bestimmung der Arbeit, lassen sich politische, gewerkschaftliche Folgerungen ziehen. Ingrid Strobl, Journalistin in Köln, die sich seit Jahrzehnten mit Prostituierten und ihrem Milieu auseinandersetzt und die 2006 ihre große Reportage »›Es macht die Seele kaputt‹. Junkiefrauen auf dem Strich« veröffentlichte, lehnt im Gespräch diese Fragestellung ab: »Die Frage nach dem Charakter dieser Arbeit geht buchstäblich unter die Haut. Natürlich verkauft sich die Frau nicht als Frau. Und die Prostituierte verkauft auch nicht ihren Körper, aber auch nicht einfach eine Dienstleistung. Auf der Welt gibt es ganz viele Dienstleistungen, in allen Branchen und allen Varianten. Aber keine impliziert, dass ich Teile eines anderen Körpers in mich hineinstecken lasse. Und da geht es bei mir über Dienstleistung hinaus. Da leistet mein Körper keinen Dienst, indem ich etwas tue – bügeln, putzen, waschen, verkaufen –, sondern ich öffne meinen Körper, damit etwas eindringen kann.«



Der Rede von der Prostitution als Dienstleistung liege ein mechanistisches Menschenbild zugrunde. Heute wissen wir, dass Körper und Seele untrennbar miteinander verflochten sind, selbst die Schulmedizin hat das mittlerweile anerkannt. »Wenn ein Penis, der nicht der deines Liebsten ist oder der eines von dir ausgewählten Lovers, und alles in dir positiv erregt ist, wenn also ein wildfremder Penis, der dir keine Freude verschafft, keinen Orgasmus, mitunter zehnmal am Tag in dich eindringt, dann macht das was mit dir. Das ist unmittelbar mit deiner Psyche verknüpft. Eine Putzfrau geht, wenn sie fertig geputzt hat, Punkt. Auch sie hat einen harten Job, aber sie öffnet nicht ihren Körper und nimmt etwas von ihren Auftraggebern in sich auf«, sagt Strobl. Und sie fügt noch hinzu: »Wenn es Prostituierte gibt, die von Dienstleistungen reden, ist das zumindest sehr abstrakt und distanziert oder eine Schutzbehauptung. Jede Prostituierte hat das Recht, ihre Arbeit schönzureden. Ich kann von keiner verlangen, dass sie die tiefsten Abgründe dessen, was sie tut, auslotet. Das steht mir nicht zu.«



Die öffentliche Rede über Prostituierte ist in der Regel eine simulierte



Damit spricht sie einen wichtigen Punkt an: Wem kann man eigentlich glauben? Sexarbeiterinnen, die in den letzten Monaten im Fernsehen auftraten, entpuppen sich als Unternehmerinnen oder Dominas, die aus dem Raster der Prostitution eigentlich schon herausfallen. Die jüngst gegründeten Interessensverbände von Sexarbeiterinnen sprechen auf ihren Webseiten eher vom Schutz der Prostitution (etwa gegen die Bestrebungen von Politik und Zivilgesellschaft, sie wieder stärker einzuschränken und die Freier zu bestrafen) als vom Schutz der Prostituierten – von Arbeitsbedingungen erfährt man dort sehr wenig. Von den total liberalen Puffbesitzern Armin Lobscheid (Pascha) oder Jürgen Rudloff (Paradise) erfährt man sowieso nichts, die vermieten ja nur die – Jargon – »erotischen Räume«.



Die öffentliche Rede über Prostituierte ist in der Regel eine simulierte – ein Fake, sagt auch Ingrid Strobl: »Stell dir mal vor, eine Akademikerin oder eine Künstlerin würde so über eine Putzfrau sprechen: Das ist ein Job mit überraschenden Aufstiegsmöglichkeiten, immer noch besser als Hartz IV, und die Putzfrauen seien ja so kreativ, so tolle Organisa­tionstalente, fast schon Künstlerinnen, die könnten ganz tolle Staubskulpturen formen. Das fänden wir ja alle zynisch. Oder absurd. Genau das findet aber im Hinblick auf Huren statt, wenn in den Talkshows Bordellbesitzerinnen sitzen und von ihrem Aufstieg und den tollen Perspektiven für die anderen Frauen schwärmen. Um im Bild zu bleiben: Die meisten Putzfrauen machen ihren Job gut, einige von ihnen haben sich ein Standing erarbeitet und kuschen nicht vor dem Hausbesitzer. Aber es bleibt eine Arbeit, die keinen Anlass zur Romantisierung bietet. So verhält es sich auch bei manchen Prostituierten. Die wissen genau, was sie tun, aber sie können gut verdrängen, die haben sich ein Selbstbewusstsein erarbeitet – und die wirst du in keiner Talkshow sehen.«



Der Verkauf von Arbeitskraft ist immer auch etwas unmittelbar Körperliches



Kurzer Blick in die Klassiker: Für Marx und Engels kommt der Kapitalismus in der Prostitution zu sich selbst, es ist gewissermaßen sein Nullpunkt. Zum einen ist sie ein Verhältnis, in dem sich größtmögliche (körperliche) Nähe – Sex – in der Form größtmöglicher Distanz – das Tauschgeschäft; hier Käufer, da Verkäuferin – ausdrückt, körperliche Intimität tritt also buchstäblich in völliger Entfremdung auf. Zum anderen kommt in der Prostitution par exellence zum Ausdruck, dass der Verkauf von Arbeitskraft nie nur etwas abstraktes, sondern etwas unmittelbar körperliches und seelisches ist. Darin liegt der Grund für die ungebrochene Attraktivität der Prostitution für viele Männer: Es ist nicht ihre angebliche dunkle, gewalttätige Sexualität, die sie zur Hure drängt; es ist auch nicht so, dass Männer Dampfkessel sind, die platzen, wenn sie nicht alle paar Tage beim Vögeln den Dampf ablassen können. Es ist die Dominanz, die ich mir kaufen kann, die zeitweilige Verfügung über einen anderen Körper, der mir Kraft meiner Geldpotenz unterworfen ist. Um in diesem Verhältnis nicht unterzugehen, ist es für die Sexarbeiterin geradezu existenziell, dazu eine Distanz aufzubauen.

 

»Von den Prostituierten, mit denen ich befreundet bin und denen ich auch nicht mehr als Journalistin begegne, sondern einfach nur als Freundin, kenne ich die Geschichten vom stundenlangen Duschen und dass es am Ende doch nichts hilft. Aber sie würden es ums Verrecken nicht öffentlich sagen. Sie sagen es auch zu sich selbst nur selten. Anders geht es nicht, sonst müssten sie aufhören zu arbeiten, weil der Ekel zu groß wird«, resümiert Ingrid Strobl. »Es geht um Selbstachtung. Manchmal geht es auch um Abgrenzung dieser Tätigkeit von deinem übrigen Leben. Prostituierte erziehen ihre Kinder, die gehen einkaufen, fahren in den Urlaub, und bei alldem soll der Job draußen bleiben. Im Regelfall ist es aber so, dass die gestandene Prostituierte im Milieu lebt. Prostitution ist für sie Alltag, Normalität. Das ist das, was auch ihre Freundinnen machen, worin ihr Freund und ihre Verwandten verstrickt sind. Ihre Lieblingskneipe ist der Ort, wo sie ihre Kolleginnen und die Zuhälter trifft. In diesem Milieu findet alles das statt, was wir auch aus unserer peer group kennen: Da wird auch gefeiert und gelacht, da tauscht man sich unter Kolleginnen aus, gibt sich Tipps und warnt vor besonders brutalen Freiern. Das ist ihre Heimat.«



De facto hat die rot-grüne Reform die Armutsprostitution gefördert



Wenn es so ist, dass Prostitution Kapitalismus in Reinform ist, dann wundert es auch nicht, dass ihre Institutionalisierung nicht zugunsten der Frauen ausfällt. Das ist das Problem mit dem Gesetz, es geht von einer Partnerschaft auf Augenhöhe aus, es gibt aber keine gleiche Augenhöhe, sondern von Seiten der Frauen allenfalls ein Verhältnis der Subversion, der Täuschung, des Schweigens und der Distanz. De facto hat die rot-grüne Reform die Armutsprostitution gefördert, einen Preisverfall forciert und umgekehrt den Zuhältern und Bordellbesitzern mehr Macht gegeben – nicht zuletzt durch das wenn auch eingeschränkte Weisungsrecht —, Druck auf die Frauen auszuüben. »Früher hat man uns gesagt, mit uns stimme was nicht, weil wir Prostituierte sind. Jetzt stimmt mit uns was nicht, wenn wir nicht gerne Prostituierte sind«, äußerte sich die Sexarbeiterin Ellen Templin in einem Interview mit Emma.

 

Welche Maßnahmen wären zu ergreifen, die am Ende nicht wieder die Frauen ausbaden müssen? Verbote? Die würden die Frauen treffen – das derzeit von Teilen der Politik favorisierte schwedische Modell, nach dem die Freier bestraft werden, würde Prostitution in die Heimlichkeit abdrängen, den Freiern wieder mehr Einfluss über die Wahl der Orte geben. Vergewaltigungen und Abzockerei dürften zunehmen. Prostitution würde unterm Verbot allenfalls die Form ändern.



Die Realität der Prostitution verweist auf die patriarchale Struktur der Arbeitswelt

 

Man kann die Ausstiegsprogramme, die, so Kritikerinnen des Prostitutionsgesetzes, sträflich vernachlässigt wurden, aufwerten – also schlicht lebensnäher gestalten: »Es muss ein absolut offenes Angebot sein ohne Druck für die Prostituierten«, sagt Ingrid Strobl. »So kann es kommen, dass Frauen, die wirklich aufhören wollen, Vertrauen fassen. Das wichtigste ist dann, dass das Angebot, das den Frauen unterbreitet wird, realistisch ist, dass sie in einen Job einsteigen können, der sie ernährt und auch ihre Kinder und der tatsächlich Aufstiegschancen bietet.« Da beißt sich die Schlange in den Schwanz, denn viele Frauen wählen den Weg in die Prostitution, weil der Arbeitsmarkt für sie nichts hergibt, weil »typische« Frauenjobs – in der Pflege, in der Erziehung – knochenhart und mies bezahlt sind. Die Realität der Prostitution verweist auf die patriarchale Struktur der Arbeitswelt.

 

Vielleicht muss man an dieser Stelle an ein Beispiel erinnern, das auf den ersten Blick nichts mit Prostitution zu tun hat: Vor Jahren kursierte die Überlegung, Krankenpflegerinnen (und meistens sind es Pflegerinnen und keine Pfleger) mit einer bestimmten Anzahl an Berufsjahren, den Einstieg in das Medizinstudium zu erleichtern. Ein Aufschrei der Ärztelobby folgte (und meistens sind es Ärzte und keine Ärztinnen), der Vorschlag versank in der Versenkung. Solange diese Arbeits- also: Herrschaftsverhältnisse nicht attackiert werden, sollte man nicht allzu sehr über das Elend der Opfer-Huren jammern. Und ja, natürlich, attackieren: Ein Zimmer im Pascha kostet die Hure pro Tag 150 Euro, und dann muss sie noch Steuern zahlen und sich verpflegen, und wenn sie in dem Zimmer übernachtet, zahlt sie extra. Es gibt Tage, da muss sie erst einmal 250 Euro reinholen, um an sich (oder ihren Zuhälter) denken zu können. Warum eigentlich ist – sagen wir mal: auf der Webseite des »Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen« – so wenig die Rede von Armin Lobscheid, dem Pascha-Betreiber? Warum will dem niemand wegen Mietwucher an den Karren fahren? Wo ist die Bewegung, die die Enteignung dieser wirklichen Paschas fordert?



»Wenn die Frauen sich selber organisieren, verdient das jede Unterstützung«



Wären die weg, bliebe immer noch die Prostitution. Aber es wäre ein Anfang. Diesen Anfang, besser: diese Anfänge gibt es schon, dann nämlich wenn die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter ihre Arbeit selber regeln. Hier besteht übrigens ein positives Potenzial des Gesetzes, hat es doch auch die Möglichkeit der Selbstorganisation legalisiert. Noch mal Ingrid Strobl: »Ich habe in Hamburg und in Wien erlebt, dass sich Frauen zusammengetan haben und sich eine Wohnung, in Wien war es sogar ein kleines Hotel, gemietet haben, um dann in Eigenverantwortung den Laden zu schmeißen. Die hatten auch mal Zoff mit den Zuhältern, die das ganze Revier für sich beanspruchen wollten, aber sie haben den Zoff durchgestanden. Die Wiener Frauen haben eine Puffmutter bestimmt, die für sie die ganze administrative Arbeit übernommen hat, also das Geld eingesammelt, sie mussten nur ihre Stunden aufschreiben und haben sich dementsprechend entlohnt. Das war Selbstbestimmung. Keine Frage, du kannst einen Scheißjob so organisieren, dass du nicht auch noch zusätzlich ausgebeutet und gequält wirst. Wenn die Frauen sich selber organisieren, verdient das jede Unterstützung.«

 

 

Außerdem zu diesem Thema: Die Fotografin Bettina Flitner war im Stuttgarter Bordell »Paradise« und hat dort Freier interviewt und fotografiert.