Die Verramschung der Reste meiner Empfindsamkeit

Mancher ist stolz darauf, was er aushält. Dabei belegt dies oft weniger Tapferkeit als das Ausmaß der Verrohung. Was dem Kind die bestandene Mutprobe ist, ist dem Erwachsenen seine Abgeklärtheit. Ich kann Nachrichtensendungen gucken und dabei genüsslich essen. Hungersnöte, terroristische Anschläge, von Diktatoren drangsalierte Bevölkerungen — ich lasse mich bildgewaltig informieren und mir zugleich das Abendessen schmecken. Ich bereite mein Mahl gewissermaßen auf dem Krisenherd.

 

So schlürfe ich Gesine Stabroths vegane Gurkensuppe, die sie mir ungebeten und in Form eines tiefgefrorenen Quaders geschenkt hatte (»ohne Sahne, wegen der Tiere«). Und zeigte mir das TV-Gerät dazu die Folgen vergifteter Gurkensaaten in Schurkenstaaten, so könnte ich nicht behaupten, dass dies mir meinen pantagruelischen Appetit verderbe. Die Bevölkerung darbt und ich stoße auf. Wegen der Gurken. Ansonsten stößt mir rein gar nichts auf (sieht man einmal von dem Umstand ab, dass in eine Gurkensuppe — vegan, globalisierungs- und lebensmittelindustriekritisch hin oder her — verdammt noch mal etwas Sahne gehört!).

 

Man stumpft ab und verwechselt das mit Beherrschtheit. Ich habe längst die Reste meiner Empfindsamkeit beim Essen vor dem Fernseher verramscht. Es ist nicht gut, was aus Fernseher kommt. Ständig schreien Menschen: weil sie beim Casting rausfliegen, weil sie andere Vorstellungen zur Rentenreform haben. Vor allem aber, weil sie eine Leiche entdecken oder selbst gerade dabei sind, eine zu werden: Denn man könnte endlos fernsehgucken, ohne etwas anderes als Krimis zu sehen, in denen aggressive Irre bei ihrem rechtswidrigen Hobby gezeigt werden. Krimi-Gucker, die nie durch humanistische Bildung aufgefallen sind, reden von katharsis und meinen, dies rechtfertige ihre Schaulust. Wer sich Liebesschnulzen ansieht, den hält man für minderbemittelt – wer Krimis guckt,  gilt hingegen als Kulturmensch auf der Höhe der Zeit. Das ist verrückt.

 

Ich begehre auf gegen das Meinungsdiktat meines Freundeskreises, in dem Tobse Bongartz ständig von »intelligenten US-Krimis« palavert. Stattdessen wollte ich mal mit Oma Porz einen gemütlichen Fernsehabend machen. Denn Oma Porz besitzt die Expertise und die entsprechenden Fernsehzeitschriften, um noch Sendungen zu ent-decken, »wo man mal was Schönes sieht und nicht nur Gerammel und Geballer«. 

 

Als Mitbringsel überreichte ich Oma Porz die Eisblöcke der Stabroth’schen Gurkenverhunzung, die glücklicherweise passgenau in Oma Porzens Eisfach zu stecken waren, womit Auftauen, Erhitzen und Verzehr bis auf weiteres in stillem Einverständnis ausgeschlossen waren. Es gab stattdessen die Reste vom geradezu anti-veganen Essen-auf-Rädern, und dann ging’s ab auf’s Sofa damit. Oma Porz hatte schon alles in ihrer Programmzeitschrift mit Kugelschreiber markiert. Anträge auf Diskussion (»Volksmusik?!«) wurden abschlägig beschieden (»Ganz tolles Bühnenbild haben die immer«). Oma locuta, causa finita. So sahen wir eine medizinische Ratgebersendung, eine Schlager-Show, in der mir unbekannte »Top-Stars« die Liebe und einige Mittelgebirge besangen, und schließlich einen Film mit hochmotivierten Laiendarstellern, in der einer ebenso herzensguten wie gehbehinderten Seniorin ihr letzter Trost in Gestalt eines drolligen Hündchens abhanden kommt. Es war ein Rührstück allererster Kajüte! Oma Porz gab sich abgeklärt wie Tobse Bongartz (»Dat is noch gar nix, letzte Woche hattse erfahren, dasse ein neues Hüftgelenk braucht und die Kasse nicht zahlt...«). Ich musste einige Zehntausendstel Sekunden sehr schluchzen. Bei Nachrichten aus Krisengebieten ist mir das noch nie passiert.