Himmel und Hölle

Dokumentarfilm: Journey to Jah von

Noël Dernesch und Moritz Springer

Der Kölner Pastorensohn Tilmann Otto war elf Jahre alt, als er die Roots-Reggae-Plattensammlung seines Bruders entdeckte, und er war noch immer Teenager, als er das erste Mal nach Jamaika flog, weil er dort etwas zu finden hoffte, ohne genau zu wissen, was er suchte. Erst später fand er einen Begriff für sein Reiseziel: Spiritualität. Ein Begriff wie ein geräumiger, zunächst leerer Sammelbehälter, den zu füllen eine nicht enden wollende Anstrengung ist. Auch für Gentleman. So heißt Tilmann Otto als Reggae-Künstler, weil die Jamaikaner seinen Vornamen so aussprachen.

 

Da die Suche nach Spiritualität kein Kurztrip ist, haben sich die beiden Filmemacher Noël Dernesch und Moritz Springer sieben Jahre Zeit genommen, um Gentleman zu begleiten. Das Paradies ist vielleicht kein Ort, sondern ein innerer Zustand, sagt Gentleman einmal. Und doch ist sein Jamaika, sein Haus am Strand, ein karibisches Idyll wie das in »Die Blaue Lagune« — was nicht verwundert, der Film wurde dort gedreht. Aber Gentleman zeigt den Filmemachern auch die Hauptstadt Kingston und das andere Jamaika, das sich durch unfassbare Gewalt auszeichnet. Der tief verwurzelte Glaube der Menschen und deren Warmherzigkeit auf der einen Seite, Gewaltexzesse und Homophobie besonders im Reggae auf der anderen sind nicht die einzigen Widersprüche, die Gentleman aufzeigen, aber auch nicht erklären kann. Und so sprechen die Filmemacher mit jamaikanischen Künstlern und Kulturwissenschaftlern, mit Menschen in den Ghettos von Kingston und mit Gentlemans italienischem Kollegen Alberto D’Ascola, der ebenfalls Europa verlassen hat und als Alborosie ein gleichermaßen erfolgreicher Reggae-Musiker in Jamaika wurde. Er erklärt die Widersprüche seiner neuen Heimat alttestamentarisch: »God lives here«, sagte er, »but Satan to«.

 

Zwischen den einzelnen Statements lassen die fantastischen Aufnahmen von Kameramann Marcus Winterbauer (»Rhythm Is It!«) Raum für Reflexionen auch über die eigenen eingeschliffenen Reiz-Reaktion-Schemata. So erklärt die Kulturwissenschaftlerin Carolyn Cooper die Selbstinszenierung junger jamaikanischer Frauen als »Pussy« mit überraschenden Thesen als Performance ganz im Sinne der Emanzipation, als Rückeroberung und Feier des jahrhundertelang abgewerteten Körpers der schwarzen Frau. Und die Musikerin Terry Lynn stellt klar, dass Reggae und Rastafari nicht deckungsgleich sind.
Die Widersprüche werden so wenig aufgelöst, wie die Sehnsüchte nach Spiritualität eingelöst, auch deshalb ist es ein großes Glück, dass sich die Macher dieser starken Dokumentation viel Zeit nehmen konnten, diese so gut es geht auszuleuchten.