»Pop-Musik ist nicht mehr so existentiell«

Diedrich Diederichsen über Strategien der Identifikation und coole

Spiele, die Flucht in die Vergangenheit und die Liebe zum Klang

Diedrich Diederichsens neues Buch »Über Pop-Musik« wird vom Verlag als Ergebnis seines lebenslangen Denkens über Pop, als »Opus magnum«, angekündigt. Wir haben uns mit dem 56-Jährigen, aktuell Professor an der Akademie der bildenen Künste Wien, Pop-Theoretiker über den Gegenstand Pop-Musik, Retromania und die gesellschaftliche Interventionskraft und Zukunft von Pop-Musik unterhalten. 

 


In Ihrem neuen Buch »Über Pop-Musik« geht es um eine inhaltliche Bestimmung, was Pop-Musik ist. Sie vereinen nicht nur als Theoretiker die Schnittmenge einer soziologisch-distanzierten, musikologischen und insiderisch-erlebnisorientierten Mentalität, sondern die Geschichte der Pop-Musik teilt mit Ihnen auch die Lebensdaten. Was für eine Sorte Gegenstand ist denn Pop-Musik?

 

Diesen Scherz gönne ich mir. Meine Lebensdaten fallen in der Tat mit dem Beginn der bemannten Raumfahrt der USA, die Zeit der NASA-Astronauten, mit der auch Pop-Musik in etwa die Lebensdaten teilt, zusammen. Im Gegensatz zu westlich-europäischer klassischer Musik, Folkloren oder auch dem Schlager, geht es bei Pop-Musik wesentlich um nicht-musikalische künstlerische Techniken und um ein spezifisches Verhalten. Pop-Musik ist zusammengesetzt aus einem Identifizieren von Personen auf und mit Bildern, dem Wiedererkennen von Stimmen und dem Zuordnen dieser Stimmen zu realen Personen und physisch oft sehr verstörenden Signalen. Ihre Rezeption ist nicht von homogenen Hörsituationen abhängig, sondern wird aus öffentlichen und privaten, ja intimen Hörerfahrungen zusammen gesetzt. Sei es in der Kneipe, an Konzerten oder an der Jukebox und im Schlaf- oder Kinderzimmer.

 

»Pop« ist nicht identisch mit dem »Populärem«. Heute rechnet man zur Pop-Musik auch ausgesprochen unpopuläre hochkomplexe, nur von wenigen SpezialistInnen goutierte Produktionen.

 

Ich versuche in dem Buch verschiedene Formen des Populären zu unterscheiden und interessiere mich, in welchem Verhältnis diese Formen des Populären zur Pop-musik stehen. Es gibt jede Menge Phänomene, die ohne weiteres als Pop-Musik zu definieren sind, die aber nichts mit dem Populären zu tun haben. Meistens, und dafür gibt es historische Gründe, hat Pop-Musik etwas mit populärer Musik zu tun, aber eben nicht zwingend. 

 

 

Sie betrachten Pop-Musik als Zeichensystem, interessieren sich aber auch für den performativen Umgang damit: Nach Ihnen hat sie die Möglichkeit geboten, »allein zu sein, mutterseelen-allein mit der Gesellschaft«. Ist das auch heute noch so?

 

Pop-Musik ist nicht mehr so existentiell. Man wird nicht mehr durch Pop-Musik sozialisiert. Meine generelle These wäre, die Sozialisierung läuft nicht mehr über Identifikation, sondern über das  coole Spiel. All diese Effekte, mit denen Pop-Musik die junge Seele formatierte und die wiederum mit bestimmten sozialen Netzwerken und urbanen Architekturen zu tun hatten, sind weniger geworden. Die Popmusik ist ein Teil der vielen Spiele geworden, die man so spielen kann. Das heißt nicht, dass das unbeteiligt seelenlos ist. Man setzt in diesen Spielen vielmehr etwas ein, aber nie alles. Man will mal sehen, was dabei herauskommt. Das ist etwas anderes als Identifikation. 

 


Somit ist das von Ihnen beschriebene Ich-Sagen und Allein-Sein in der Pop-Musik, um den Schnabel ganz weit aufzureißen und sich zum Außen der Gesellschaft zu erklären, kaum noch eine Option?

 

Zum einen ist das Schnabel-Aufreißen in Casting-Shows und anderswo normativ geworden und handwerklich diszipliniert, zum anderen fehlt ihm der Kontext. Das Schnabel-Aufreißen konnte komplett stulle sein und wusste vielleicht nicht, was es redet. Aber wenn jemand daneben stand und sagte, »Hey, da es geht um Emanzipation«, dann konnte es tatsächlich auch emanzipatorisch werden. Es kommt nicht darauf an, was in irgendeinem Moment in irgend-einem Punk-rocker vorgeht, sondern mit welchem Kontext sich Punk produktiv verknüpft. Jon Savage beschreibt in seinem Buch »England’s Dreaming« wie um das Jahr 1976 herum kein Mensch wusste, was Punk genau ist, ob es nicht sogar etwas Rechtsradikales wird. Darum haben die Redakteure des New Musical Express beschlossen, diesen Lärm strategisch so lange links zu besetzten und zu erden, bis schließlich Rock against Racism entstand.

 


Eine weit verbreitete These stammt vom britischen Popjournalisten Simon Reynolds. In seinem »Retromania«-Buch deutet er die zahlreichen  Retro- und Revival-Moden als ästhetischen Stillstand.

 

»Über Pop-Musik« widerspricht dieser These eigentlich. Meine Beschreibung geht vielmehr davon aus, dass es einen Umgang mit alter Musik und damit einen völlig anderen  Bezug zum Material  gibt. »Retro« klingt, als würden die Leute heute dasselbe wie die Hörer von früher erfahren, als hätten sie beim Hören dieselben Ideen dazu. Jemand, der heute Psychedelic oder alten Soul hört, der hört das definitiv anders. Anders als früher steckt in diesem neuen Hören ein sehr hohes Soundbewusstsein. Im Gegensatz zu so etwas hochartifiziellem wie 82er-Pop geht es heute nicht um das Zitat einer früheren Musik und das Ausstellen der eigenen Sekundarität, sondern um die bastlerische und fetischistische Rekonstruktion. Man versteht Distanz oder »zitierendes« Begehren nicht mehr als Befreiung von Authentizitätsimperativen, sondern man bewältigt — wie aktuell im Hypnagogic Pop — das eigene Gefangensein unter dem Gesetz des Genres. Bei heutigen Memphis-Soul-, Metal- und Psychedelic-Rekonstruktionen aus Ländern wie Japan, Finnland oder Bulgarien regiert auch dieses Gesetz des Genres, wenn auch nicht als Problem. Es geht zu wie in einer Kirche, und man versucht, alles so gut wie möglich zu machen. In diesem heiligen Bezirk will man immer noch exaktere und crispere Lösungen produzieren. Gleichzeitig gibt es aber auch unendlich viel Produktionen, die jenseits von Retro-Aspekten klangforscherisch vorgehen und bei denen Reynolds Retromania-Muster überhaupt nicht hinhaut. Der Musikjournalist David Toop musste, als er vor zwanzig Jahren »Ocean of Sound« schrieb, sich die Beispiele noch regelrecht zusammenklauben und in japanische Tempel pilgern. Mittlerweile erscheinen tagtäglich ein Dutzend Sound-Art-Produktionen.

 


Welche gesellschaftliche Aufgabe kann Pop-Musik heute noch übernehmen? Welche Interventionskraft in aktuelle Debatten würden Sie sich wünschen?

 

Grundsätzlich finde ich, dass man sich zuerst einmal darüber verständigen sollte, was für ein Gegenstand Pop-Musik ist. Früher wäre es vielleicht unsere Aufgabe gewesen, in verbohrte und machistische Identifikationslogiken Spiel und Distanz einzubringen. Jetzt könnte es darum gehen, dass Spiel zu unterbrechen. Mein Wunsch wäre aber, dass die Leute vom herrschenden Musikparadigma, wie es in der akademischen Beschäftigung mit Pop-Musik herrscht, in der Institutionalisierung von praktischen Pop-Studiengängen, aber auch im Castingshow-Sprech, loszukommen. Wenn das weg wäre, wäre schon viel gewonnen. Sowohl für die Produktion und die ProduzentInnen, aber auch für das Bewusstsein dessen, was man eigentlich an der Pop-Musik genießt und was einen daran interessiert. Gleichzeitig müssen wir vorsichtig sein mit Modellen, wo von Intervention oder Opposition die Rede ist. Heute haben wir in der Musik eher ein Mitvollziehen, das sich auch immer gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse richtet, aber sie eben auch rekonstruiert. Daran ist sehr viel ablesbar, als Hörer lässt sich ein Verhältnis dazu einnehmen, das von dieser Deutlichkeit profitiert. Aber die Pop-Musik ist dabei nicht mehr so sehr eine eigenständige gesellschaftliche Kraft.