Vielfalt und Verlust

Das Internationale Frauenfilmfestival Köln/Dortmund spürt in seinem »Fokus Türkei« den Ursachen der Proteste rund um den Gezi-Park nach

Manchmal sind Zahlen sehr anschaulich: Von rund 6000 türkischen Filmen zwischen 1914 und 2002 entstanden 96 unter weiblicher Regie, hat Semire Ruken Öztürk für ihr Buch »Feminine Side of Cinema: Women Filmmakers in Turkey« errechnet — wobei davon allein über 25 auf das Konto der legendären, vielfach talentierten Bilge Olgac gehen. Andererseits soll die Zahl der aktuell in der Türkei tätigen Regisseurinnen größer sein als in Hollywood.

 

Nachdem das Frauenfilmfestival Dortmund/Köln 2012 einen Schwerpunkt auf die arabische Welt gelegt hat, präsentiert es nun in Köln einen beeindruckenden Querschnitt durch das Schaffen türkischer Filmemacherinnen. Nicht die Suche nach den neuesten Filmen leitete die Kuratorinnen Sonja Hoffmann und Betty Schiel (unterstützt von Emel Celebi, der Mitbegründerin des Dokumentarist-Filmfestivals), sondern die Frage, inwieweit das Kino die den Gezi-Park-Protesten vorausgehenden gesellschaftlichen und politischen Verschiebungen eingefangen hat.

 

Gerade die profilierten Filmemacherinnen zeichnet aus, dass sie sich nicht auf die weibliche Perspektive festlegen, sondern ihre Geschichten in größere Zusammenhänge einbetten — Fragen des kollektiven Gedächtnisses, des historisch Verdrängten und medial Ausgesparten. Pelin Esmers mehrfach prämiertes Spielfilmdebüt »10 vor 11« fächert etwa mit Hilfe von nur zwei Figuren die ganze Problematik der Stadterneuerung Istanbuls auf: Der alte Herr Mithat, der sich weigert, seine mit Büchern und Zeitschriften voll gestopfte Wohnung für den Abriss zu räumen, kennt die Metropole wie seine Westentasche und steht doch dem gigantischen urbanen Wandel genauso ratlos gegenüber wie der ortsunkundige, aus dem kurdischen Osten zugezogene junge Hausmeister Ali.

 

Dabei verlaufen die seismischen Linien auch fernab des Epizentrums Istanbul: Ruya Arzu Köksal widmete etliche ihrer Filme den Schwarzmeer-Fischern. »Son Kumsal« (2008) zeigt, wie eine neue Autobahn-Trasse mehrere Dörfer komplett vom Strand abschneidet. Mit dem traumhaften Küstenabschnitt wird auch eine Lebensweise zerstört — allen juristischen Einwänden zum Trotz regiert das Kalkül der Kontraktoren. Ökologisches, Soziales, Wirtschaftliches ist in der Türkei momentan aufs engste miteinander verflochten: Die Straße soll die dritte Bosporusbrücke Istanbuls anfahren — die unabsehbaren Auswirkungen des in Planung befindlichen Megaprojektes auf Umwelt und Gesellschaft waren auch ein Anlass für die Proteste vom Juni 2013.

 

Während der türkische Dokumentarfilm inhaltlich gerade gerne alte Tabus und die Staatsmacht angreift, sind die ausbalancierten Bilder und die genaue Montage Ruya Köksals momentan noch die Ausnahme. Ähnlich konzentriert ist immerhin der Blick von Belma Bas, Schwester der prominenten Dokumentarfilmerin Berke Bas: Ihr Spielfilm »Zephyr« erhielt 2012 den Debütpreis des Frauenfilm­festivals, im diesjährigen Schwerpunkt läuft »Poyraz« von 2006. Der karge und doch atmosphärische Kurzfilm zeigt voller Andeutungen auf innere und äußere Veränderungen eine Heranwachsende in der idyllischen Schwarzmeerregion nahe Ordu.

 

Die frühere Architektin Yesim Ustaoglu, die in Köln eine Masterclass geben wird,  verfolgt in »Pandora’s Box« (2008) das Auseinanderfallen einer zugewanderten Kleinfamilie im Moloch der Stadt. Ein ähnliches familiäres Minenfeld findet sich in »Koksuz«. Deniz Akcay, die 2013 den Nachwuchspreis des Istanbul Filmfestivals erhielt, beschreibt den sozialen Druck, der auf einer plötzlich allein erziehenden Mutter dreier heranwachsender Kinder lastet: Als der Ehemann und Vater stirbt, gerät das bewährte Gefüge der Geschlechterrollen aus den Fugen. Platz für Neues, auf Kosten eines Nervenzusammenbruchs.

 

Die gleichfalls im Fokus gezeigten deutschtürkischen Filme sind thematisch nicht weit vom Szenario in der Türkei entfernt: »Meine Zunge dreht sich nicht« (2013) etwa ist eine intim gefilmte Spurensuche der Berliner Schauspielerin Serpil Turhan. Bei der Befragung ihrer aus der Nähe von Erzincan stammenden, über Istanbul nach Deutschland ausgewanderten Familie, wird auch irgendwann deren Zugehörigkeit zur kurdisch-alevitischen Minderheit deutlich. Dem Verbot des Kurdischen dort entspricht das Vergessen hier.

 

Ob kulturelle Assimilation an die Mehrheit oder Megalomanisches social engineering im Stile Erdogans: Der Fokus Türkei des Frauenfilmfestivals ist Chronik eines Verlustes von Vielfalt. Und steht somit ganz im Gegensatz zur Vielfalt der gezeigten filmischen Formen.

 


Internationales Frauenfilmfestival
Insgesamt acht Filme gehen dieses Jahr bei der Kölner Ausgabe des Internationalen Frauenfilmfestivals in den Wettbewerb um den besten Debütfilm. Eine überschaubare Aufgabe für die Jury um die Schauspielerin Julia Hummer, die den mit 10.000 Euro dotierten Hauptpreis des Festivals vergeben wird. Zur Eröffnung läuft »Los insólitos peces gato« von Claudia Sainte-Luce, der schon auf verschiedenen internationalen Festivals Preise gewonnen hat, aber – wie vier weitere Filme des Wettbewerbs – bislang noch nicht in Deutschland zu sehen war. Das diesjährige Sonderprogramm ist der Türkei gewidmet (siehe Text), die Sektion Panorama bietet einen Überblick über die internationalen Produktionen von Filmemacherinnen, die formal oder inhaltlich im vergangenen Jahr aufgefallen sind. In der Reihe »Begehrt – Filmlust queer« kommt die LGBT-Community auf ihre Kosten. Ein schönes Special widmet sich zudem der US-amerikanischen Animationsfilmerin Jodie Mack.

 

Di 8.4.–So 13.4., diverse Orte.
Infos: frauenfilmfestival.eu