Der Film unterstützt die Irrwege des Zuschauers

Jan Schomburg über seinen neuen

Film »Vergiss mein Ich«, Köln als Drehort, Humor und offene Enden

Ein Gedächtnisverlust ist ja meistens ein dramaturgischer Kniff von Thrillern oder Melodramen. In Ihrem Film »Vergiss mein ich« rückt er ins Zentrum einer Ge--schichte über Identität. Wie kam das? Anlass war ein Radiofeature über eine Frau, das ich gehört habe. Durch eine Gehirnentzündung hatte sie ihre komplette Biographie vergessen und erzählte, wie ihre Umgebung versucht hat, ihr Ich zu rekonstruieren. Ich fand es faszinierend, dass da jemand wie ein Fremder auf sein eigenes Leben schaut. Zugleich berührt die Geschichte Fragen nach Identitätskonzepten: Was ist eigentlich das »Ich«? Gibt es eine Differenz zwischen »jemanden spielen« oder »jemand sein«?

 

Beim Sex sagt ihre Protagonistin Lena: »Ich weiß gar nicht, was jetzt von mir erwartet wird.« Das ist natürlich ein Schlüsselmoment. Wir glauben ja, dass gerade die sexuelle Überwältigung etwas rein »natürliches« ist. Der Film stellt immer wieder die Frage, inwieweit auch diese vermeintlich genuinen Dinge ebenfalls erlernt und kons-truiert sind, ohne darauf eindeutige Antworten zu geben. Und zugleich ist das Faszinierende an einer Konstruktion, dass die Differenz verschwindet und sie zu einer Wirklichkeit wird.

 

Liegt in der Selbstvergessenheit der Amnesie die größtmögliche Freiheit? In gewisser Hinsicht ja. Gleichzeitig glaube ich nicht an den totalen Neuanfang oder die Unterscheidung zwischen »gutem« und »schlechtem« Leben. Ich fand es in metaphorischer Hinsicht interessant, dass sich jemand mit dieser ganzen Freiheit dafür entscheidet, der zu werden, der er war. Weil das ja die Entscheidung ist, die wir alle jeden Morgen treffen. Man wacht auf und trifft auf dieses Ich und auf die eigene soziale Umgebung, die es bestätigt. 

 

Ihre Stoffe lesen sich immer eher »schwer« und entpuppen sich dann als überraschend witzig und spielerisch. Welche Rolle spielt Humor für ihre Arbeiten? Mir gefällt an Humor wahnsinnig gut, dass man Szenen und Situationen, die normalerweise auf eine bestimmte Weise gezeigt werden und ebenso konnotiert sind, umdeuten kann. Wenn sich das Sexuelle ins Lächerliche wendet oder die Trauer eine totale Komik bekommt. Humor ist für mich etwas, das Dinge zusammenbringt, die nicht zusammengehören. 

 

Welche Rolle spielt für sie und ihre Geschichten der Drehort Köln? Ich drehe wirklich gerne in Köln. Köln ist kein ganz einfacher Drehort, weil es ja auf den ersten Blick sehr hässlich und verbaut ist: Es gibt wenig Fluchten, wenig -Freiraum. Aber dann gibt es auch immer wieder so erstaunlich schöne Bauten: die Riphahn-Architektur aus den 60er Jahren oder der Bismarck-Saal vom WDR. Da spürt man den positiven Geist der Bundesrepublik der 60er Jahre. Diese seltsamen Antagonismen zwischen solchen Orten und etwa dem Dom finde ich sehr schön. 

 

Maria Schrader war in den letzten Jahren auf der Leinwand wenig präsent. Wieso haben Sie die Rolle der Lena mit ihr besetzt? Ich mag Marias frühere Filme und durch ihre Theaterarbeit in Köln war sie mir sehr präsent. Maria ist eine Schau-spielerin, der man die In-tellektuelle — die Lena vor der Amnesie war — abnimmt. Ihre -größeren Kinorollen sind ja schon ein paar Jahre her, und ich habe den Eindruck, dass sie mittlerweile mit ei-ner Ästhetik verbunden wird, die als nicht mehr zeitgemäß gilt. Aber es macht mir unheimlichen Spaß, Schauspieler fürs Kino anders zu besetzen oder auch neu zu ent-decken. 

 

»Es bleibt immer eine Lücke« sind Lenas letzte Worte. Beschreibt das auch die ästhetische Programmatik ihrer Filme? In gewisser Hin-sicht versucht jeder engagierte Fil-memacher Lücken zu lassen, die der Zuschauer schließen kann. Ich mag es allerdings nicht, wenn Filme den Eindruck erwecken, als habe da jemand Ostereier versteckt, die ich als Zuschauer finden muss. In einem Film wie »Das weiße Band«, den ich handwerklich sehr bewundere, scheint selbst die behauptete Freiheit des Zuschauers zur eigenen Assoziation minutiös geplant. Ich finde es schön, wenn man das Gefühl hat, dass der Filmemacher vielleicht selber nicht genau weiß, was er da versteckt hat und eine Unschärfe bleibt. 

 

Auch ihre Filme spielen mit den Zuschauererwartungen, ohne dabei manipulativ zu wirken. Natürlich ist der Film manipulativ, da er sanft und zugleich sehr gezielt die Irrwege des Zuschauers unterstützt. Oft wenn man denkt: Jetzt öffnet sich das in diese Richtung, schließt sich die Tür plötzlich wieder. Dass man dabei nicht das Gefühl hat, man soll an der Nase herumgeführt werden oder ein Statement aufgedrückt zu bekommen, hat mit Empathie zu tun. Man erfährt diese Irrwege mit der Hauptfigur gemeinsam.

 

Ihre Enden sind in gewisser Hinsicht offen und geschlossen zu-gleich. Ich möchte einen Punkt setzen, der ein kleines Fragezeichen in Klammern dahinter hat. Ansonsten habe ich das Gefühl, ich mogele mich zu sehr raus. In meinem eigenen Leben neige ich stark dazu, immer alle Positionen zu sehen. Aber man muss ja auch mal einen Punkt machen, um irgendwo hinzukommen (lacht). Der kann ja auch falsch sein. Aber erst wenn man einen Punkt setzt, kann man sich dafür oder dagegen positionieren.

 

Jan Schomburg

 

Jan Schomburg wurde 1976 in Aachen geboren. Er studierte in Kassel und an der KHM in Köln. Sein erster Spielfilm »Über uns das All« (2011) wurde auf der Berlinale uraufgefu?hrt und mit dem Prix Europas Cinemas ausgezeichnet. Sein zweiter Film »Vergiss mein Ich« war im Wettbewerb der diesjährigen Filmfestspiele von Rotterdam.