Genie der kleinen Gesten

Familiendrama: Tao jie von Ann Hui

Damit war nicht zu rechnen: Mit »Tao jie — Ein einfaches Leben« hat noch mal ein Film von Ann Hui, der großen alten Dame des Hongkonger Filmschaffens, einen Verleih in Deutschland gefunden. Dass letzte Mal liegt lange zurück. Es war Ann Huis »Romanze von Buch und Schwert« im Jahr 1987. Das ihr neuester Film nun hier zu sehen sein wird, liegt wohl daran, dass er in Venedig im Wettbewerb präsentiert und Deannie Yip als Beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. Seit vielen Jahren lief vorher nichts mehr von Hui auf einem der großen internationalen Festivals. Aufgrund der filmkulturellen Entwicklung der letzten rund zwanzig Jahren erstaunt das nicht weiter: Huis Kunst basiert darauf, dass eine gute, nachvollziehbare Geschichte jeden Menschen als ein soziales Wesen ähnlich angeht — diese Haltung aber passt nicht auf einen Markt, der segmentierte Interessen bedienen will. »Tao jie« verkörpert hingegen das Ideal eines Kinos als kollektiver Sinnstiftung und Selbstbefragung. Er handelt davon, was Menschen miteinander teilen können, sollten und dürfen — und welche Dinge des Lebens unteilbar sind. Ann Hui gelingt all das mit ehrfurchtgebietender Vollkommenheit.

 

Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Ah Tao zunächst als Kindermädchen, später als Hausdame für die Familie Leung gearbeitet. Nach einem Schlaganfall ist sie pflegebedürftig. So kommt Ah Tao in ein Seniorenheim, wo sie ihren Alltag so gut weiterführt, wie sie kann. Sie hat keine Familie mehr, und der einzige Mensch, den sie regelmäßig trifft, ist Roger (Hongkong-Superstar Andy Lau), den sie als Kindermädchen großgezogen hat. Roger arbeitet als Filmproduzent, kommt viel herum, muss flexibel sein und weiß deshalb nicht so recht, wie er mit der Situ­ation umgehen soll.

 

Hui erweist sich in ihrer Inszenierung wieder einmal als Genie der kleinen Gesten, des Alltäglichen, des sozialen Miteinanders. Man glaubt diese Geschichte von Ziehmutter und Quasikind gern, weil Hui sie in einen nachvollziehbaren, in seinen Routinen und  Ritualen konzis skizzierten gesellschaftlichen Kontext einbettet. Hier geht es darum, wie man sein Leben lebt und unter welchen Bedingungen überhaupt Mitmenschlichkeit möglich ist. Hui zeigt das klar und brutal frei von allen Illusionen. Eben deshalb gehört »Tao jie« zum Anrührendsten und Substanziellsten, was man dieses Jahr im Kino sehen kann.