Tabu total

Vier internationale Theatergruppen zeigen beim 13. Sommerblut-Kulturfestival das, was nicht geht in Europa

Eine unsichtbare Kraft, die unser Leben organisiert, die uns vorschreibt, was wir unterlassen ­sollen. Das »Tabu« gehört zum Regelwerk des Alltags und ist auch ein in Psychologie und Philo­sophie viel diskutiertes Konzept. In der Debatte ist der aus Poly­nesien stammende Begriff für Verbot von Übervater Freud bis Postmodernist Michel Foucault prominent verhandelt worden. Eine neue Dimension brachte Anfang der 90er das Phänomen der political correctness.

 

Zeitgenössischen Transformationsprozessen von Tabus in Europa ist nun das internationale Theaterprojekt »Taburopa« unter der künstlerischen Leitung des Kölner Regisseur André Erlen auf der Spur. Während des Sommerblut-Kulturfestivals feiert es seine Uraufführung. Wie strukturieren Sprech- und Handlungsverbote unser Zusammenleben? Schnell stellt sich die Frage, was eine künstlerische Annäherung im Gegensatz zu einer wissenschaftlichen oder journalistischen bietet. »Die Kunst liefert eine tatsächliche Erfahrung«, erläutert der Theatermacher. »Im besten Fall erlebt man den Bruch eines Tabus auf der Bühne persönlich als etwas, was nicht sein darf und wie das in einem selbst funktioniert.«

 

Vor drei Jahren trat Rolf Emmerich, Leiter des Sommerblut, an Erlen und seine Gruppe Futur3 mit dem Plan heran, ein internationales Projekt für sein Festival zu realisieren. Für das Sommerblut ist »Taburopa« eine Gelegenheit, sich international zu positionieren und »für uns ist es sehr hilfreich einen etablierten Partner an der Seite zu haben«, findet Erlen. Allein den Antragswust für EU-Mittel zu bewältigen, dauerte zwei Jahre. »Und wir mussten ein Thema finden, das über Ländergrenzen hinweg funktioniert.« Ausschlaggebend war für die Idee hinter »Taburopa« das Wiederstarken von nationalen Klischees und die verschärfte ­Diskussion über das europäische Projekt im Zuge der Finanzkrise. »Während man vorher versucht hatte, gleiche Werte innerhalb der EU-Länder zu betonen, wurde auf einmal die Souveränität der Nationalstaaten verteidigt«, erklärt Erlen. »Die Grie­chen waren plötzlich die ›Anderen‹, eine Gefah­renzone, von denen ›wir‹ uns abgrenzen müssen. Es entstand ein unausgesprochenes Meidungsgebot: ein Tabu.«

 

In aufwändiger Recherche suchte der Kölner Theatermacher internationale Partner, um kulturelle Ein- und Ausschlussmechanismen in europäischen Gesellschaften zu erforschen. »Taburopa« ist als Begegnungsprojekt angelegt. Die Förderung läuft nicht zentral über Köln, sondern die teilnehmenden Künstler waren aufgefordert, Unterstützer in ihren Herkunftsländern zu finden und einen Austausch zu organisieren. Ein Großprojekt also, dass es in dieser Dimension im Sommerblut-Fes­tival bislang noch nicht gegeben hat. Mit von der Partie sind kobalt.works (Belgien), Teatro Praga (Portugal), Association of Culture Practitioners (Polen) und Futur3 (Deutschland).

 

Zu Beginn von »Taburopa« kam es jedoch für die Ensemble-Mitglieder zu einer Art künstlerischem blind date. Die vier Regisseure arbeiten nicht mit ihren eigenen Schauspielerin und Tänzern, sondern mit denen einer anderen Gruppe zusammen. In den jeweils neu geformten Ensembles reisten die Künstler in ein Her­kunfts­land der Kollegen, um vor Ort zu recherchieren. Die Herangehensweise ist typisch für die künstlerische Arbeit von Futur3:  ein Thema etymylogisch zu erkun­den und von Experten möglichst viel darüber zu erfahren, um sich dann selbst damit zu konfrontieren.

 

Für Andre Erlen und das ihm zugeteilte Ensemble »Association of Art Practitioners« aus Polen war das Experimentierfeld dieser Theaterprinzipien nun Lissabon. Die Begegnung mit dem dort auffällig praktizierten Katholizismus schaff­te den größten Kontrast zwischen den Kollegen und ihm. »Währenddessen für sie sofort ihre Erfahrungen mit Macht und Einfluss der Kirche greifbar waren, war das für mich interessante Folklore.« Ob ein negatives Regelwerk funktioniert oder nicht, hänge vom Kontext ab. Beispielsweise könne auch in Portugal Homosexualität mal kein Tabu sein, so Erlen weiter, mal aber würden Homosexuelle ungeachtet geltender Gesetze diskriminiert. Der Staat ist das eine, Bürger sind das andere und umgekehrt.

 

Alle vier Arbeiten über die Do’s and Don’ts, darüber was zu weit geht in Europa, sind nun zum ersten Mal in einem geführten Theaterparcours zu sehen, der vom Arkadas Theater/Bühne der Kultu­ren über das Artheater, das Kölner Künstler Theater bis zum Design Quartier Ehrenfeld führt. »Wie für uns, soll der Abend für das Publikum zu einer echten Reise werden«, wünscht sich Erlen.

 

Er selbst will in »No Return« mit den Performern aus Polen die Tabus im Rahmen der postkolo­nia­len Umdeutung von Werte — Fuß­ball und Fatima, Kolonialreich, Katholizismus, Saudade und Fado — sichtbar machen. Ein Stück über Identität und das »als etwas identifiziert werden« hat Agnieska Blonska aus Warschau mit kobalt.works erarbeitet. Die Regisseurin konzentriert sich auf die stillen Über­einkünfte, die bei diesen Mecha­nismen eine Rolle spielen. Arco Renz aus Belgien arbeitet mit dem Teatro Praga unter dem Titel »Inkubator« daran, Tabus als kör­per­liche Erfahrung einer Differenz von Individuum und Gruppe dar­zu­stellen. »SHHHHHHHOW« von André ­Teosodio und den Performern von Futur3 werfen einen Blick auf das Erlernen von Tabus in der Kindheit. Nach der Urauffüh­rung von »Taburopa« reisen die Ensembles im Oktober und No­vem­ber zu Auf­führungen in die Partnerstädte Brüssel, Lissabon und Warschau.