»Die komplexeste Beziehung in unserer Psyche ist das Verhältnis, das wir zu unserer Vergangenheit haben« – Richard Linklater im Gespräch mit der Stadtrevue

»Ich will herausfinden, was Zeit ist«

»Before Sunrise«-Regisseur Richard Linklater arbeitete über zwölf Jahre an »Boyhood«. Mit uns sprach er über Kindheit und Helikopter-Eltern

Herr Linklater, was war die Idee für Ihr Langzeitprojekt »Boyhood«? Und wie hat sie sich in den zwölf Jahren der Produktion verändert?

 

Ich wollte einen Film über Kindheit drehen, konnte mich allerdings einfach nicht für eine Phase der Kindheit entscheiden, weil mir jedes Alter auf seine Weise interessant erschien. So ­kam die Idee auf, einen Film über die gesamte Entwicklung vom sechsjäh­rigen Jungen bis zum 18-jäh­rigen Erwachsenen zu machen, indem man jedes Jahr ein bisschen dreht. Ich habe jedes Jahr mein Konzept überprüft und das vorhandene Material umgeschnitten. Aber am Ton der Erzählung und der Art der Wahrnehmung hat sich nichts geändert.

 

Es ist unmöglich vorauszusehen, was aus einem sechsjährigen Jungen in zwölf Jahren werden wird. Was haben Sie in Ihrem jungen Hauptdarsteller Ellar Coltrane gesehen, das Ihnen das notwendige Vertrauen gab?

 

Ellar war einfach ein interessantes Kind. Aber in dem Alter castet man auch die Eltern mit. Vater und Mutter sind beide Künstler, und wir konnten auf ihre Unterstützung zählen. Es war klar, dass der Film Ellars Entwicklung folgen wird und die Geschichte in einem gewissen Maß mit seiner Persönlichkeit verschmelzen würde. Es ist ein fiktionales Por­trät. Aber die Figur am Ende des Films ist dem heutigen Ellar sehr ähnlich.

 

Woher kommt Ihre Vorliebe für das Vergehen der Zeit und Langzeitprojekte wie dieses und die »Before Sunrise«-Reihe?

 

Eigentlich habe ich in meiner gesamten Laufbahn als Filmemacher mit den erzählerischen Möglichkeiten der Zeit experimentiert. Der Faktor Zeit gehört zu den wichtigsten Vermögenswerten des Kinos. Ob es nur ein kleiner Ausschnitt ist, den man in Echtzeit erzählt wie in »Before Sunset« oder ein Langzeitprojekt wie »Boyhood« — ich versuche herauszufinden, was Zeit eigentlich ist, sowohl in einer Geschichte als auch im echten Leben. Die komplexeste Beziehung in unserer Psyche ist das Verhältnis, das wir zu unserer Vergangenheit haben. Sich zu erinnern, wie man als Sechsjähriger, als Teenager und als junger Erwachsener war und das mit seinem heutigen Sein zu vergleichen — das ist ein sehr komplizierter und hoch interessanter Prozess.

 

Ein Prozess, der auch beim Zuschauer in Gang gesetzt wird?…

 

Ja, genau. Obwohl ich beim Drehen daran gar nicht gedacht habe. Aber ich sehe jetzt, dass der Film von jedem Zuschauer je nach Alter etwas anderes einfordert. Was man in dem Film sieht, hängt sehr stark von der eigenen Lebenserfahrung ab. Leute, die jetzt um die zwanzig sind, mögen den Film, weil er ihr eigenes Leben zeigt. Wenn man selbst Kinder hat, bekommt man wieder einen ganz anderen Blick. Das Schöne am Leben ist ja auch, dass es einen immer wieder auf­fordert, die Stadien des eigenen Daseins neu zu überdenken. 

 

Wie sehen Sie Kindheit? Als offenen Raum, in dem alles möglich ist, oder als Käfig der Sozialisation?

 

Das ist die große Frage. Beide Ebenen überlagern einander ständig. Man liegt als Kind im Gras, schaut in den Himmel und das Leben steckt voller Möglichkeiten. Das menschliche Gehirn funktioniert ja so, dass wir das, was wir nicht verstehen, mit der eigenen Fantasie füllen. Und so träumt sich ein Kind in eine Welt unendlicher Möglichkeiten. Aber um das Kind herum ist die straffe Struktur der Familie und der Schule, die die Verbindung zur realen Welt herstellt. Wenn Mason mit seinem Vater darüber spricht, ob es eigentlich Elfen gebe, erkennt er die Grenzen der Realität. Umgekehrt zeigt die Szene auch die Herausforderung des Erwachsenseins: Denn eigentlich ist die Realität sehr viel erstaunlicher als alle Elfen zusammen. Aber man muss härter daran arbeiten, um sich das Glück und die Schönheit der realen Welt bewusst zu machen.

 

Sie zeigen Mason als einen passiven, beobachtenden Jungen. Inwieweit ist diese Haltung auch das Ergebnis der schwankenden Familienverhältnisse?

 

Als Kind ist man vollkommen machtlos. Man hat keine ökonomische Freiheit, man kann die Entscheidungen der Erwachsenen kaum beeinflussen. Man sitzt mit seinen Eltern fest und versucht sich in diesen Beschränkungen so gut es geht einzurichten. Das passive Element gehört zur Kindheit dazu, weil man nur zu einem sehr kleinen Teil die Verantwortung für sein Leben hat.

 

Auf der anderen Seite erscheint Passivität in unserer hyperak­ti­ven Zeit fast als Luxus. Lässt unsere Gesellschaft heute zu wenig Platz für die produktiven Kräfte jugendlicher Langeweile?

 

Das ist ein modernes Dilemma, das auch mit dem gewandelten Selbstverständnis der Eltern zu tun hat. Meine Generation schaut zurück auf eine Kindheit, in der man an der langen Leine gehalten wurde. Wir haben uns nach der Schule durch den Tag treiben lassen und als Jugendliche die Wochenenden durchgefeiert. Das Leben von Heranwachsenden ist heute sehr viel stärker strukturiert. Das ist ja alles gut gemeint von den Eltern, die ein aktiver Bestandteil im Leben ihrer Kinder sein wollen. Aber dadurch wird eine Helikopter-Elternschaft hervorgebracht, in der Väter und Mütter die ganze Zeit um ihre ­Kinder herumschwirren.

 

Interview: Martin Schwickert 

 


»Boyhood« startet am 5.6. > Zum Kinoprogramm mit Kurzkritik >

 


Richard Linklater wurde 1960 in Austin, Texas geboren. Mit »Slacker« sorgte der Autodidakt 1991 erstmals für internationale Aufmerksamkeit. Danach inszenierte er unter anderem die Jugenderinnerung »Dazed and Confused«, den Animationsfilm »Waking Life« und die Erfolgskomödie »School of Rock«. Für »Before Sunrise« erhielt er auf der Berlinale den Silbernen Bären für die Beste Regie. Für die Fortsetzungen »Before Sunset« und »Before Midnight« wurde er gemeinsam mit den Hauptdarstellern Ethan Hawke und Julie Delpy jeweils für den Oscar nominiert. Linklater ist künstlerischer Leiter der von ihm 1985 gegründeten Austin Film Society. Sie bringt Filme aus der ganzen Welt nach Austin, die es dort sonst nicht zu sehen gäbe

 


Außerdem in der StadtRevue Juni:

 

Keupstraße: Betroffenheits-Pop und eine bedenkliche Entwicklung des NSU-Prozesses +++ Fußball-WM: Was bewegt die Protestierenden in Brasilien? +++ Fußball-WM II: Wo man in Köln am besten Fußball schauen kann +++ Alice Rose: Die dänische Soundaktivistin hält es schon seit 13 Jahren in Köln aus +++ Primark in Köln: Boykott ist auch keine Lösung +++ Radverkehrskonzept Innenstadt: Der große Wurf kommt nicht +++ »Cannabis Colonia«: Ein Verein für die Legalisierung +++ Im Trend: Gemeinsam bauen, gemeinsam leben