Glückliche Gefangene

Episodenfilm: »Kathedralen der Kultur« von

Michael Glawogger, Wim Wenders und anderen

Wie alle Episodenfilme ist »Kathedralen der Kultur« qualitativ schwan­kend. Wim Wenders’ mit geschmackssicherer Kleinbür­gerlichkeit verklebter Beitrag über die Berliner Philharmonie ist ein Ausreißer nach unten, der aber gut auf­gefangen wird von einem so­liden Rest, allen voran Michael Madsens Episode über die Haftanstalt Halden in Norwegen und Lena Olsens Beitrag über das Opern­haus in Oslo. Ungewöhnlich ist, dass alle sechs Werke eher essayistisch an ihr The­ma herangehen und in 3-D ge­dreht wurden — und dass sie so­wohl als Sech­serpack wie auch in zwei Dreiertranchen verliehen werden.

 

Den einzig zwingenden Grund, sich mit diesem Omnibus-Projekt,  ausführlicher auseinanderzusetzen, stellt indes Michael Glawoggers Meisterwerk über die Russische Nationalbibliothek in Sankt Petersburg dar.  Durch den Malariatod Glawoggers bei den Dreharbeiten für einen neuen Reisefilm Ende April in Liberia bekommt »Russische Nationalbibliothek, Sankt Petersburg« plötzlich eine herausragende Bedeutung für den Blick auf das Schaffen von Österreichs bedeutendstem Filmemacher seit dem Zweiten Weltkrieg.

 

Der Film, bei dessen Dreh­arbeiten er verstarb, hätte eine Zwischenbilanz werden sollen: Glawoggers letzter Reisefilm nach »Megacities« (1998), »Working­man’s Death« (2005) und »Whores’ Glory« (2011), eine Art Arsenal, in dem Platz sein sollte für alles, was ansons­ten im Kino aus Formaterwägungen wegfällt. Ein Versuch, wenn man so will, die Welt in ­Marginalien zu beschreiben. Wenn dieser Film ein schweifender Blick weltwärts gewesen wäre, dann ist »Russische Nationalbibliothek, Sankt Petersburg« eine Art intro­spektives Beistellwerk. Glawogger verliert sich gerne in den unzähligen Regalreihen. Hier lässt sich angeblich eine Ausgabe von jedem jemals in Russland veröffentlichten Buch finden, auch jede Zeitung, jedes Magazin und jede Flugschrift, ganz zu schweigen von den hunderttausenden weiteren Exponaten aus aller Welt, die zurück­reichen bis in die Zeit vor dem Buchdruck. Wie angezogen vom Murmeln der Werke um sie herum wandelt die Kamera durch die Gänge, welche für viele der Mitarbeiterinnen des Hauses (man sieht fast nur Frauen) zu einer Heimat geworden sind. Schlafen gehen sie in die Vorstädte, ihr Leben aber findet in der Bibliothek statt. ­Glawogger erkannte sich in ih­nen, nicht nur, weil Teile seines Hauses im niederösterreichischen Pitten einer Bibliothek gleichen, ­sondern auch weil sie, gleich ihm, ihr Dasein einer Leidenschaft gewidmet haben. Es sind glück­liche Gefan­gene eines Erkennt­nis-, aber auch Traumraums, den kein Mensch je zur Gänze wird fassen können.