Ekstatische Wahrheit

Doku-Fiktion: »Sieniawka« von Marcin Malaszczak

Sieniawka, das ist der Name eines polnischen Dorfes in Laufnähe sowohl zur deutschen und tschechischen Grenze als auch zu einer wahren Mondlandschaft, die der jahrelange Braunkohleabbau zur Zeit des Realsozialismus hinterlassen hat. Im Umland ist Sieniawka aber auch die geflügelte Bezeichnung für eine Klinik für Nervenkranke in einem ehemaligen Gefangenenlager der Nazis. Sieniawka ist also ein Ort im Herzen Europas, an dem sich Geschichte wie eine Endmoräne aufschüttet und wo vergangene Welten gespenstisch präsent sind.

 

Für den Berliner Filmstudenten Marcin Malaszczak ist Sien­iawka unterdessen ein ganz persönlicher Erinnerungsort. Hier wuchs er auf, zwanzig Jahre lang war seine Tante stellvertretende Direktorin des Krankenhauses. Insbesondere diese persönliche Verbindung verlieh dem jungen Regisseur einen privilegierten Zutritt mit viel Vertrauensvorschuss. Wenn er mit seiner mal statischen, mal in sanft suchender Bewegung kippenden und krei­senden HD-Digitalkamera Orte, Ruinen und Fragmente dieses Ortes abtastet, dann verbirgt sich dahinter vielleicht auch die Suche nach Spuren der eigenen Ge­schich­te, insbesondere auch der eigenen Gefühlswelt.

 

Auf Identifikation und Vermittlung legt es Malaszczak aber ge­ra­de nicht an: »Sieniawka« erklärt nicht und stellt nicht aus, kein Voice over, keine Texttafeln erhellen das hermetische Geschehen. Statt­dessen ruht der Film in eigentümlicher Rätselhaftigkeit. Auf fiktionale Elemente — zu Beginn erle­ben wir die Ankunft eines lädierten Kosmonauten — folgen dem ersten Anschein nach rohe, beiläufige Dokumentarszenen aus dem Krankenhausalltag, die offen lassen, ob es sich wirklich um genau beobachtete Impressionen handelt oder um bewusst choreografierte Ab­folgen. Immer wieder werden die narrativ nicht gefügten Ereignisse ins Traumartige verschoben, so etwa in einer Einstellung auf dem Klinikflur, die sich erst nach einer Weile als rückwärts ablaufend herausstellt.

 

Gerade die langen Szenen mit den Krankenhauspatienten lassen mitunter an Werner Herzogs Filme denken, insbesondere jene, in denen es um Menschen jenseits normierter Vorstellungen geht. Ähnlich wie Herzog sucht auch Malaszczak eine Art »ekstatischer Wahrheit«, doch bleibt sein Film nüchterner. Ihm fehlt der metaphysische Überbau, er belässt Leute und Orte in ihrem blanken Sein. Nur seine Kamera macht ­daraus Poesie.